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Ilma Rakusa gewinnt Schweizer Buchpreis

Ilma Rakusa hat mit "Mehr Meer" ein episches Werk über Kindheitstage in Osteuropa geschaffen. Keystone

Ilma Rakusa hat für ihr Buch "Mehr Meer" den zum zweiten Mal verliehenen Schweizer Buchpreis erhalten. Rakusa ist eine Reisende zwischen den Kulturen. Die Jury lobte ihre "Erfüllung der Welt mit Poesie".

Dass Ilma Rakusa, deren Werke bisher über die Fachwelt hinaus nur wenig bekannt waren, mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, kommt überraschend. Als Favorit hatte Urs Widmers Roman «Herr Adamson» gegolten.

«Erinnerungspassagen» lautet der Untertitel von «Mehr Meer». In kurzen Kapiteln wird in diesem Buch vom Werdegang des kleinen, auf die Welt neugierigen Mädchens zur europäischen Intellektuellen erzählt.

«Schönheitsempfindlichkeit»

Die Jury lobte Rakusas «Schönheitsempfindlichkeit» und die «Erfüllung der Welt mit Poesie». «Geschult im Umgang mit den grossen Lyrikern, die sie übersetzt, interpretiert und vermittelt, geschult auch durch die eigene lyrische Arbeit», habe Ilma Rakusa «ein episches Werk geschaffen, das lyrische Ansprüche erfüllt» heisst es in der Laudatio von Martin Ebel.

Rakusas Buch, das im Literaturverlag Droschl erschienen ist, hat es bisher nicht in die Bestsellerlisten geschafft. Das könnte sich nun ändern: Der letztjährige Sieger Rolf Lappert erlebte mit seinem Roman «Nach Hause schwimmen» nach der Auszeichnung eine gewaltige zweite Rezeptionswelle.

Nomaden

Ilma Rakusa wurde 1946 in der Slowakei geboren. Ihre familiären Wurzeln reichen mütterlicherseits nach Ungarn und väterlicherseits ins Baltikum.

Bedingt durch die häufigen Wohnortswechsel trug die Familie das «Stigma des Nomaden». Maribor, Budapest, Triest und schliesslich Zürich lauteten die Stationen der Emigration.

Obwohl, oder weil diese Reise von einem Provisorium ins nächste zuletzt in den Westen führte, behielt der Osten Europas für Ilma Rakusa eine Aura der Sehnsucht. Schon als Studentin begab sie sich auf den Weg zurück in die verlorene Heimat, über unheimliche Grenzen hinweg. 1969 verbrachte sie ein Studienjahr im damaligen Leningrad.

«Mehr Meer» erzählt in 69 kurzen Kapiteln von den Irritationen der Kindheit und Jugendzeit, denen durch die Emigration bedingt ein sicherer Ort fehlte. Die Umzüge, vom Vater mit Umsicht vorbereitet, zwangen das Kind immer wieder dazu, sich von alten Spielkameraden zu verabschieden und sich in neuen Umgebungen neu einzuleben.

Prägender Dostojewski

Das Kind reagierte auf seine Weise: «Ich träumte mich nach innen, in schneckenartige Labyrinthe, bis an den Tränenpunkt. Dort war es weit und still.» Und es suchte sich seine eigenen Welten: die Musik, das Lesen, und das kirchliche Fest.

«Ostern» ist ein zentrales Kapitel überschrieben, worin Rakusa mit sinnlicher Intensität eine Osterfeier 1959 in Zürich beschreibt und daran die Erinnerung an eine spätere Osternacht in Leningrad anknüpft. Leningrad/Sankt Petersburg und Dostojewski, der mit dieser Stadt unzertrennlich verbunden ist.

Die Lektüre von «Schuld und Sühne» war eines der prägenden Erlebnisse. Der hochmütige Raskolnikow und die demütige Sonja boten sich als Lebensfiguren an.

Sinnliche Anschaulichkeit

In diesen «Erinnerungspassagen» erzeugt Ilma Rakusa kein artifizielles Kontinuum, sondern legt ihre punktuellen Reminiszenzen als Textur aus sich locker aneinander anlagernden Puzzleteilen vor uns aus.

Sinnliche Anschaulichkeit und kluge Präzision sind hervorragende Charakteristiken. Gefangen von der «Gravitation der Erinnerung» werden auf diese Weise geliebte und sonderliche Menschen, zauberhafte und schreckliche Orte, Gefühle und Emotionen zu neuem Leben erweckt. Gerüche und Stimmungen sind gewissermassen das Substrat, in dem sie eingebettet sind.

Rakusas Buch bildet eine Reise ab, die nach Hause führt. Doch wo liegt dieses Zuhause? Die Frage bleibt ohne definitive Antwort. Sehnsucht und Neugierde bedurften für Rakusa keines fixen Zieles.

swissinfo.ch und Agenturen (Beat Mazenauer, sda)

Ilma Rakusa wurde 1946 in der Slowakei geboren.

Volkschule und Gymnasium besuchte sie in Zürich, danach absolvierte sie ein Studium der Slavistik und der Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg.

Seit 1977 hat die Autorin einen Lehrauftrag an der Universität Zürich. Daneben ist sie freiberuflich als Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin tätig.

Der Schweizer Buchpreis war im vergangenen Jahr lanciert worden, um das Augenmerk auf Werke von Schweizer Autorinnen und Autoren zu lenken.

Der erste Preisträger war Rolf Lappert mit seinem Buch «Nach Hause schwimmen».

Die im Rahmen von Buch.09 Basel verliehene Auszeichnung ist mit 50’000 Franken der höchstdotierte Literaturpreis der Schweiz.

Neben der Gewinnerin Ilma Rakusa wurden auch die übrigen vier Nominierten ausgezeichnet: Eleonore Frey für «Muster aus Hans», Jürg Laederach für «Depeschen nach Mailland», Angelika Overath für «Flughafenfische» und Urs Widmer für «Herr Adamson» erhielten je 2500 Franken.

Insgesamt waren 61 Titel zur Jurierung eingereicht worden, 2008 waren es 71.

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