Hamstern als Bürgerpflicht: Der Schweizer Notvorrat
Kommt die Krise, deckt die Schweiz sich ein. Einen Run gab es diesmal auf das Fiebermittel Paracetamol. So sehr, dass die Regierung den Verkauf limitieren musste. Dabei wäre eigentlich vorgesorgt: Das Land fordert seine Bürger zum Anlegen von Notvorräten auf.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs stürmten die Schweizer und Schweizerinnen die Läden. Ende der Woche waren Konserven, Reis und Kaffee aus den Regalen verschwunden. Darauf rationierte die Regierung die Lebensmittel.
Doch auch während des Kriegs galt: Wenn es etwas zu kaufen gab, kauften die, die es sich leisten konnten, ein wenig oder viel mehr als nötig.
Am Ende des Kriegs stellte der «Deutschschweizer Sprachverein» eine Liste mit Wörtern auf, die der Erste Weltkrieg der Schweiz gebracht hat. Darunter waren «Evakuierte», «Dienstverweigerer», aber auch «Hamstern».
Jene, die zu viel einkaufen, um für den Krisenfall gesichert zu sein, werden mit Hamstern verglichen, die ihre Backen mit Nahrung füllen können.
«Hamstert Sonne!», schrie die Werbung
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam es wieder zu Hamsterszenen. Einzelne reagierten darauf mit Humor. So warben die Schweizerischen Bundesbahnen für Ausflüge in die sonnigen Berge mit dem Slogan «Hamstert Sonne!». Aber 1941 liefen Studenten mit Plakaten umher, auf denen stand: «Hamstern ist Landesverrat!» Andere forderten einen Pranger für «unsoziales Verhalten».
In Satiremagazinen mehrten sich bittere Witze und gehässige Gedichte gegen Hamsterer – dies obwohl Panik-Käufe im Zweiten Weltkrieg eine kleinere Rolle gespielt hatten, als im Ersten, da schon frühzeitig rationiert wurde.
Notvorrat als Bürgerinnenpflicht
Nach 1945 wollte die Schweizer Regierung diese Art von abrupten Mehrkäufen, die am Anfang von Krisenzeiten verlässlich einsetzten, unter Kontrolle kriegen. Der neu gegründete Zivilschutz begann die Bevölkerung dazu zu erziehen, einen Notvorrat anzulegen, damit die Frauen, wie ein Heft des Schweizer Instituts für Hauswirtschaft es umschrieb, nicht bei jeder Krise «wie aufgeschreckte Hühner» alles leer kauften.
Den Grundstock für jeden Notvorrat sollten zwei Kilogramm Zucker, zwei Kilogramm Reis, ein Liter Öl und ein Kilo Fett legen – er konnte noch ergänzt werden durch Teigwaren, Mehl, Konserven und vieles mehr. Er sollte für einige Wochen reichen.
Denn die Situation hatte sich mit dem Kalten Krieg zugespitzt: Nun ging es um die Versorgung im Falle eines atomaren Krieges. Zu Beginn der 1950er-Jahre fand die Idee, sich einen Notvorrat anzulegen, aber noch wenig Anklang. Erst nach dem Einmarsch der UdSSR in Ungarn Ende 1956, der in der Schweiz zum Sturm auf die Läden führte, setzte sich die Idee in der Bevölkerung durch.
Man bewarb den Notvorrat im Kino, in Ausstellungen, an Messen, Hauswirtschaftslehrerinnen vermittelten ihren Schülerinnen die Wichtigkeit des Notvorrats. Mit dem Notvorrat kam der Kalte Krieg im Alltag der Menschen an.
Geltende Normen und Werte stärken
Die Historikerin Sibylle Marti, die sich eingehend mit dem Notvorrat beschäftigt hat, sagt dazu: «Ziel der Kampagnen für den Notvorrat war es auch, die Bedrohungsbilder des Kalten Kriegs im Alltag der Schweizer Bevölkerung zu verankern. Sie waren Teil der geistigen Landesverteidigung und sollten die nationale Identität und als schweizerisch geltende Normen und Werten stärken.»
So wurde die Frau, ohne Stimmberechtigung und ohne Armeepflicht, in der ihr damals zugedachten Rolle mobilisiert: Ihre Front sollte das Ladenregal sein. Marti: «In den Kampagnen für den Notvorrat widerspiegelte sich die traditionelle Geschlechterordnung der Schweizer Nachkriegszeit.»
So hiess es in einer Broschüre von 1960: «Es sollte für die Hausfrau eine ebensolche Selbstverständlichkeit sein, Vorräte im Hause zu haben, wie es für den dienstpflichtigen Mann eine Selbstverständlichkeit ist, sein Gewehr im Hause aufzubewahren. Sein Gewehr pflegt der Soldat, die Hausfrau sorgt für Notvorrat.»
Die Notvorrats-Kampagnen bedienten zwar traditionelle Rollenbilder – doch die Beamten, die für die Notvorrat-Kampagne zuständig waren, griffen zu den neuesten Mitteln der Werbetechnik. So rief die Behörde 1957 einen Wettbewerb aus, in dem Gedichte gesammelt wurden, die den Notvorrat beliebt machen sollten. Zehntausende Beiträge gingen ein. Ein satirischer Beitrag lautete:
Ihr lieben Freunde und Eidgenossen,
Lasst Waren uns hamstern jetzt unverdrossen,
Heut› dürfen wir hamstern auf allen Wegen,
Der Bundesrat gibt uns dazu seinen Segen.
Den Hauptpreis von 1000 Franken gewann dann aber der Spruch: «Vorräte kaufen mit Verstand ist auch Dienst am Vaterland.»
Auch der Erfolg der Notvorrat-Kampagne wurde stets mit Methoden der Werbewirkungsforschung ermittelt: Bei 70% der Bevölkerung fand man verlässlich einen vollen Vorratsschrank – dem Erreichen der «sorglosen» 30% widmeten sich ab den 1960ern die Kampagnen. Die Bildsprache wurde lockerer.
«Als in den 1960er-Jahren der American way of life auch in der Schweiz Einzug hielt und für Frauen neue Konsum-, Freizeit- und Arbeitsmöglichkeiten entstanden», sagt Marti, «wandelte sich das traditionelle Frauenbild – und auch die Kampagne: Die Notvorräte sollten von ihrem Kriegsimage befreit und in den Kontext einer praktischen modernen Lebensführung gestellt werden. Der Notvorrat wurde nun als eine Art Pannenhilfe für Hausfrauen präsentiert.»
Bis heute empfohlen
Der historische Wandel schien dem Notvorrat wenig anhaben zu können: Noch in den 1980er-Jahren wurde beinahe alle zwei Jahre flächendeckend über den Sinn des Notvorrats informiert – selbst 1988, mitten im Tauwetter des Kalten Kriegs, forderte der Bundesrat in der Tagesschau noch dazu auf, einen Notvorrat zu halten.
Nach 2001 wurde der Sinn des Notvorrats einmal mehr bekräftigtExterner Link – er sei nicht «antiquiert». Aber die Zeit der grossen Kampagnen war vorbei, man informiert noch in Hauswirtschaftskursen und im Netz.Externer Link
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