«In Berlin kann man sich immer neu erfinden»
Berlin ist ein Eldorado für die internationale Kunst-und Kreativszene. Tiefe Lebenskosten sind nur ein Grund dafür. Die Auslandschweizerin Adeline Mollard ist der Frage nachgegangen, was die Anziehungskraft der Metropole ausmacht.
Berlin – die Stadt der Kreativen: Das ist mehr als ein Slogan, mit dem sich die Metropole heutzutage schmückt, um Touristenströme anzulocken.
Künstlerische Zwischennutzungen von Brachflächen und leer stehenden Fabriken oder das halb verfallene Kulturzentrum Tacheles gehören schon lange zum Stadtbild, genauso wie das Brandenburger Tor oder der Fernsehturm.
Ob Fotografinnen, Designer, Maler, Musikerinnen oder Modemacher – Berlin wirkt wie ein Magnet auf Künstler aller Couleur. Die Kunstschaffenden kommen aus allen Ecken der Welt und schätzen den billigen Wohn- und Arbeitsraum in der 3,5-Millionen-Stadt.
Sie lassen sich nieder in Mitte, Neukölln oder Kreuzberg, mieten ein Ladengeschäft, ein Atelier oder gleich eine ganze Fabriketage. Tiefe Lebenskosten sind ein wichtiger Grund, der Berlin im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen wie Paris oder London so attraktiv macht.
Günstiges Leben
«Berlin setzt den Künstlern nicht das Messer an den Hals», sagt Adeline Mollard. Die Schweizerin ist freie Grafikerin und lebt seit bald drei Jahren in Berlin. «In dieser Stadt kann man mit relativ wenig Geld sehr gut leben. Das schafft eine unglaubliche Freiheit, um sich intensiv mit seinem Schaffen auseinanderzusetzen und sich immer wieder neu zu erfinden», sagt die 28-Jährige.
Mollard ist gebürtige Freiburgerin und kam im Rahmen eines kantonalen Stipendiums in die Stadt an der Spree. Die junge Frau war sofort fasziniert von deren Energie. «In Berlin entsteht immer wieder Neues. Man hat eine Idee und setzt sie um, schnell und spontan.»
Lebensmittelpunkt Berlin
Sie entschloss sich, die Dynamik der Kunst- und Kreativszene künstlerisch festzuhalten und zu dokumentieren. Herausgekommen ist das Buch «Berlin Subjective Directory», das ein gutes Dutzend frei arbeitender Künstlerinnen und Künstler porträtiert und dabei ganz unterschiedliche Ansichten zeigt, warum sie sich Berlin als Lebensmittelpunkt ausgesucht haben.
Da ist zum Beispiel der Brite Jerszy Seymour. Für den 43-Jährigen ist Berlin so einzigartig und lebenswert, weil die Stadt, anders als viele europäische Metropolen, nie die Möglichkeit hatte, arrogant oder protzig zu werden. Sehr viele Jahre sei Berlin nicht viel mehr gewesen als ein heruntergekommener Ort.
«Zum grossen Glück», wie der Designkünstler findet. Seymour, dessen Arbeiten schon im Vitra Design Museum bei Basel ausgestellt wurden, schätzt noch etwas an der Stadt: «Man kann sich in Berlin einheimisch fühlen, selbst wenn man woanders geboren ist. Das wäre in Paris oder Mailand nicht möglich.»
Nach dem zweiten Weltkrieg und auch nach der Wende seien in Berlin ganze Stadtviertel neu entstanden. Fremdes und Neues gehörten daher schon immer dazu.
Heimisch in der Wahlheimat
In Berlin Wurzeln zu schlagen, ist nicht schwierig. Zumindest die Künstler in Mollards Buch fühlen sich gut integriert. «Hier mischen sich die unterschiedlichsten Menschen ohne Probleme. Im Gegensatz zu Zürich gibt es genügend Platz für alle», sagen die Fotografen Taiyo Onorato und Nico Krebs, die abwechselnd in beiden Städten leben.
Und ihr Landsmann Stéphane Noël, Kurator und Art Direktor von verschiedenen Kunstprojekten, bringt es auf eine ganz eigene Art auf den Punkt: Jeder, der aufgehört habe, andere davon zu überzeugen, dass dies die beste Stadt zum Leben sei, sei ein «real Berliner» – ein echter Berliner.
Der subjektive Blick
Die Porträts in Mollards Buch sind in Englisch, die Auswahl der Künstler ist subjektiv und persönlich. Der Bildband ist in einer kleinen Auflage von 100 Exemplaren erschienen und bereits nahezu vergriffen.
Die Grafikerin schliesst nicht aus, dass es einen Folgeband geben wird, vielleicht über Künstlerinnen und Künstler in anderen Städten. «Für meine Idee würde sich auch ein Blog gut eignen», sagt die junge Frau.
Aber Mollard entschied sich für die Ästhetik des gebundenen Buchs und für den langsameren Erzählmodus gegenüber elektronischen Medien. «Ein Buch ist etwas für die Nachwelt.»
Die meisten porträtierten Kunstschaffenden kommen aus der Schweiz und aus Europa, einige auch aus Übersee. So wie die australische Performerin und Modedesignerin Kathryn Jamieson, die nach Berlin gekommen ist, «weil die Stadt Leute anzieht, die mehr an der Entwicklung ihrer Arbeit interessiert sind als an Geld».
Wer in Berlin arbeite, so Jamieson, dem gehe es nicht unbedingt um Erfolg und darum, der Beste sein zu wollen. «Wer ein kommerzieller Künstler sein will, geht nach Paris oder London.»
Transit-Destination
Dass es in Berlin an Geld fehlt, führt jedoch auch dazu, dass viele Künstler die Stadt irgendwann wieder verlassen.
Ein weiterer Schweizer, der Grafikdesigner Nicolas Bourquin, analysiert dies ganz nüchtern. «Berlin ist für viele Künstler nur eine Zwischenstation», sagt er. Die meisten Kunstschaffenden blieben zwischen drei Monaten und drei Jahren.
«Sie gründen ein Magazin oder ein Modelabel, machen eine Galerie oder einen Laden auf. Doch irgendwann gehen sie wieder, weil sie nicht an den Punkt kommen, wo sie von ihrer Idee leben können.»
Adeline Mollard übrigens verbringt gerade ein Auslandsemester in New York, wo sie einen Master in Designkritik begonnen hat und eigene Projekte als Designerin weiterverfolgt. Sie sagt, Berlin fehle ihr.
Vielleicht kehrt sie der Stadt irgendwann trotzdem den Rücken – um mit ihren Ideen anderswo mehr Geld zu verdienen.
Das Kunsthaus Tacheles in Berlin-Mitte war noch bis vor kurzem ein selbstbestimmtes, kollektives Kunst- und Veranstaltungszentrum.
Vor allem in den 1990er-Jahren galt das bunt bemalte Gebäude mit den markanten Schuttskulpturen auf dem riesigen Freigelände als wichtiges Kunst-, Aktions-, und Veranstaltungszentrum.
In dem ehemaligen Kaufhaus befanden sich unzählige Ateliers, Ausstellungsflächen und Verkaufsräume für zeitgenössische Kunst, ein Programmkino sowie ein Restaurant.
2009 musste der Verein Tacheles Insolvenz anmelden, da er die Nutzungs-Entschädigung von über 100’000 Euro nicht aufbringen konnte; die von der Verwalterin HSH Nordbank anberaumte Zwangsversteigerung im Frühjahr 2011 wurde jedoch kurzfristig abgesagt.
Wenig später verliessen die Gastronomiebetreiber und zahlreiche Künstler gegen die Zahlung von einer Million Euro das Tacheles, auch das Kino wurde geschlossen.
Achtzig Künstler verblieben mit ihren Ateliers und Metallwerkstätten im Gebäude und wehren sich bis heute gegen die Räumung.
Inzwischen liess der Zwangsverwalter eine knapp drei Meter hohe Mauer bauen, die den Durchgang von der Strasse zum Hof mit den Werkstätten trennt.
Über das zukünftige Konzept für das Gebäude ist bis heute nicht entschieden. Die Künstler hoffen, dass die Stadt Berlin doch noch die Immobilie übernimmt.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch