In Sandra Knechts Kunst steht Patti Smith für Sauerteigbrot und Alpenbutter
Das Werk der Schweizer Künstlerin Sandra Knecht schöpft aus dem Zusammenleben mit Tieren, dem Kochen und den vielfältigen Geschmäckern der Natur.
Im Dorf Buus, im ländlichen Nordwesten der Schweiz, gackern die Hühner in die winterliche Kälte, es blöken die Schafe, es bellen die Hunde. Und inmitten dieser ländlichen Idylle weht eine LGBTQ-Fahne an einem Balkon.
Es ist dies das Zuhause von Sandra Knecht und ihrer Partnerin, das sie mit den drei Hunden Lupina, Gazul und Almaz bewohnen. Von hier aus erforscht die Künstlerin in einem Langzeitprojekt die Frage, was Heimat ist – vor allem kochend und fotografierend, aber auch mit Installationen, Skulptur und Klang.
«Ich will herausfinden, was mir Sicherheit gibt und was Heimatgefühle auslöst, unabhängig davon, wo ich lebe, wo ich aufgewachsen bin», sagt sie.
Inmitten der Stadt Basel zeigt Sandra Knechts Ausstellung «Home Is a Foreign Place» die Kunst, die zwischen Hunden und Hühnern entstanden ist.
Knecht wird die Besucher:innen auch bekochen. Die ausgebildete Sozialpädagogin eroberte erst die Schweizer und dann die internationale Kunstszene über die Küche.
Einladungen nach London, Barcelona und an die Biennale Venedig
Bekannt wurde sie ab 2016 mit dem «Chnächt» in Basel, wo sie unter dem Label «Immer wieder sonntags» jeweils fünf Gänge und einen Schnaps servierte, jeder Abend einem Tier gewidmet, einer Pflanze oder einer Zubereitungsart.
Sie kochte Road-Kill-Würste, bereitete ganze Kühe «from nose to tail» zu und experimentierte mit vergessenen Rezepten.
Das traf den Nerv einer Zeit, in der sich das urbane Volk zunehmend nach dem Ursprünglichen, dem Echten und dem Nachhaltigen sehnte.
Sie kam auf den Radar von lokalen und internationalen Kurator:innen wie Samuel Leuenberger und Koyo Kouoh, und bald folgten Einladungen: an die Biennale Venedig, ins Kunsthaus Zürich, ins Kunsthaus Baselland, in die Fundació Joan Miró in Barcelona und in die Serpentine Gallery in London. Sie stellte im «Social Club» während der Art Basel aus und reiste nach Berlin und Mexiko.
Trotz ihrer internationalen Tätigkeit bleibt Knecht fest verwurzelt in ihrem Alltag in Buus. «Ich bin eine Sesshafte», sagt sie, während sie Tee aus den Kräutern der umliegenden Wiesen aufkocht.
Ihr Leben wird von den Tieren bestimmt – den Hunden, Geissen, Hühnern, dem Trutenpaar, dazu die Schafherde ihrer Partnerin.
Hier, im Einklang mit den Tieren, den Pflanzen und den Jahreszeiten, entstehen ihre Werke, die mehr sind als nur ästhetische Produkte: Sie sind eine Reflexion ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit der Welt.
Das Atelier im oberen Stock wirkt wie eine Wunderkammer: Tierschädel, Voodoo-Puppen, Schlangen in Formaldehyd und ein von Wespen umwobener Holzschlitten stehen neben Fotografien ihrer Ziegen.
«Mein Vorbild ist die Wespe», sagt Knecht. «Sie erobert sich einen Ort, ohne dass sie für uns Menschen nützlich ist.»
Das wunderliche Gebilde der Wespen, das sich um den Schlitten gewunden hat, wird zur Metapher für Knechts Kunst: ein stiller, beharrlicher Eroberungsakt.
Der Stamm des Lieblingsbaums als Artefakt der Vergänglichkeit
Knechts Alltag in Buus ist auch ihr künstlerisches Material. Für die aktuelle Ausstellung «Home Is a Foreign Place» verschmilzt sie ihr persönliches Universum zu einem Gesamtkunstwerk: Ein Bienenhaus wurde halb zerlegt im Ausstellungsraum installiert. In seinen Fragmenten symbolisiert es einen Schutzraum und zeigt gleichzeitig seine Brüchigkeit.
Auf dem Boden ruht der Stamm ihres Lieblings-Birnbaums mit einer feinen Bronzehaut überzogen. Gefällt hat ihn ein Sturm. So wirkt er wie ein Artefakt der Vergänglichkeit, das zugleich Stabilität und Verlust thematisiert.
Fotografien aus Knechts ländlichem Leben sind in Holzrahmen zu sehen, die ihre Partnerin aus einem einzigen Stamm gefertigt hat.
Auch ein Fotoprojekt, das sie gemeinsam mit dem Fotografen Lukas Wassmann und Buuser:innen entwickelt hat, zeigt Knecht in ihrer aktuellen Ausstellung.
Ausserdem ist ihre Lieblingsmusik, von Hardcore-Punk bis Joan Baez, auf LPs zu hören. Wer in die Ausstellung kommt, betritt Knechts Heimat.
Eine Auswahl aus dem Fotoprojekt «Home is a foreign place» in Kollaboration mit Lukas Wassmann. Alle abgebildeten Protagonist:innen wurden gefragt: «Was bedeutet für dich Heimat?»
Die Publikation, die zur Ausstellung erscheint, vermittelt eine Ahnung ihrer Arbeitsweise. Das Buch kombiniert Texte zu den Begriffen «Heimat» und «Binarität» mit Fotografien von Knechts Tieren. Man taucht ein in ein rhizomartiges Geflecht aus Beobachtungen, Erfahrungen und Assoziationen.
Ursehnsüchte des Zusammenlebens mit Tieren
Ein frühes Selbstporträt zeigt die heute 56-Jährige als 26-Jährige, schon da mit einem Huhn im Schoss und einem Hund im Hintergrund. Damals lebte sie in Frankreich mit ihrer Freundin, einer Landwirtin, und fotografierte den Hof mit seinen Hunderten Tieren.
Aus dieser Zeit stammt eine traumhafte Doppelbelichtung eines Waldstücks, in dem Bauern ihre toten Schafe ablegten. Für Knecht ein Echo auf Ernst Kreidolfs «Hundehimmel» aus dem Kinderbuch Fest der Hunde, das sie besonders schätzt.
Knechts Fotografien sind dokumentarisch und doch tief persönlich: roh, ungeschönt und intim. Sie erinnern an die Werke von Nan Goldin – eine visuelle Sprache, die ein enges Zusammenleben mit Tieren zeigt und in urbanen Betrachtenden Ursehnsüchte weckt. Solche Bilder hat Knecht über Jahre auf Facebook veröffentlicht.
Es finden sich auch Fotografien ihrer «Tschinns» – lebensgrossen Fantasiefiguren, die innere Dämonen oder Erinnerungen symbolisieren und sich mit Bildern von Tanzritualen von Indigenen in Mexiko verbinden, die in ihrer Farbigkeit überraschende Ähnlichkeit mit Kurt haben. So heisst Knechts farbenprächtiger Truthahn.
Als Gassenarbeiterin und DJ in der Stadt
«Nenn mich eine Porträtistin», sagt Knecht über ihr Schaffen, «von Zuständen, von Tieren, von Orten.» Ihre Biografie ist ebenso eklektisch wie ihre Kunst.
Ihre Kindheit verbrachte Knecht im Zürcher Oberland. Die Familie ernährte sich makrobiotisch, mit 13 half sie beim Dorfmetzger aus, und in den Ferien lernte sie bei den Bäuerinnen in einem Urner Tal Kochen.
Doch immer wieder zog es sie in die Stadt. Als DJ legte sie an Technopartys Platten auf, und sie arbeitete 20 Jahre lang als Sozialpädagogin in Zürich, zunächst als Gassenarbeiterin für Drogenprostituierte während der Platzspitz-Ära, dann in der Betreuung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Dabei betreute sie auch deren Mütter, die darunter litten, ihre Heimat verlassen zu haben. Beim gemeinsamen Kochen entstanden Brücken, und Geschmäcker wurden zum Seelenöffner.
Als Knecht der Sozialarbeit den Rücken zukehrte, wurde der Geschmack zu ihrem künstlerischen Medium. 2011, mit 43 Jahren, begann sie ein Kunststudium, das sie mit dem Master abschloss. Danach startete ihr zweites Leben.
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Heimat, Identität – die Begriffe sind heute hochpolitisch und umstritten. Doch Knecht verfolgt keine politischen Absichten, wenn sie kocht, schreibt und fotografiert. Sie spüre dem Eigenen im Fremden nach — und dem Fremden im Eigenen, und tue das für sich selbst.
Ihre radikal subjektive Herangehensweise schafft Raum für Fragen: Ist das Eigene wirklich so anders als das Fremde? Sind Tiere den Menschen vielleicht doch ähnlicher als wir glauben?
Für Knecht ist Heimat ein fluides Gefühl, das ständig neu verhandelt werden muss. Heimat ist der Ort, an dem sie sich zugehörig fühle – sei es in Buus oder in Mexiko.
Während ihrer Residency in der Casa Wabi in Oaxaca im Frühjahr 2024 beobachtete sie Rituale und Prozessionen, kochte mit Indigenen auf dem Feuer, und ritt mit Gauchos in den Bergen. All das weckte in ihr Heimatgefühle.
«Meine Heimat ist Geschmack, ist Kochen, ist ein Feuer machen, in einem Stall stehen. Es ist eine innere Heimat.»
Die Gerichte, die für Georgia O’Keeffe, Kate Bush und Billie Holiday stehen
Auch Kunst, Musik und Literatur sind essenziell für ihr Zugehörigkeitsgefühl. Inspiriert von Judy Chicagos The Dinner Party, einer Pioniertat feministischer Installationskunst der 1970er-Jahre,wählte Knecht 32 Künstler:innen aus, die sie geprägt oder herausgefordert haben.
Knecht ordnete jeder von ihnen einen Geschmack zu, aus dem einzigartige Gerichte entstanden: Georgia O’Keeffe steht für gegrilltes Knochenmark und Knochenbrühe, Kate Bush für Cola-Raketeneis und weisse Schokolade, Diane Arbus für Erdnusskrokant, Billie Holiday für Zitronen, Champagner und Bitterorangen, Patti Smith für Sauerteigbrot und Alpenbutter.
An sechs Tagen im April wird Knecht die 32 Künstler:innen-Gerichte servieren. Dazu lädt sie Menschen aus ihrem Dorf zum Festschmaus ein, Freund:innen und alle, die an der Ausstellung mitgewirkt haben.
So verschmilzt ihre Kunst mit ihrem Leben und mit den unterschiedlichsten Geschmäckern zu einem Gesamterlebnis, das sowohl ihre kreative Welt als auch die Essenz ihrer Heimat widerspiegelt.
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