Israel, Diaspora, Gaza: Schweizer Filmfestival legt Konfliktlinien der jüdischen Identität offen
Michel Rappaport, Direktor des jüdischen Filmfestivals Yesh! in Zürich, spricht mit SWI swissinfo.ch über die Herausforderungen bei der Zusammenstellung des diesjährigen Festivalprogramms und über die Gewissensprüfung innerhalb der jüdischen Diaspora nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober.
Es gibt Dutzende jüdischer Filmfestivals auf der ganzen Welt, von Hongkong bis Kanada. Allein in den Vereinigten Staaten existieren mindestens 20 von ihnen. Sie reichen von kleinen Veranstaltungen auf Gemeindeebene bis hin zu professionelleren Projekten wie in Toronto, London und New York.
Diese Vielzahl jüdischer Filmfestivals spiegelt die Diversität jüdischer Identitäten und Anschauungen wider, die oft miteinander in Konflikt stehen: Säkulare und Religiöse, Zionistinnen und Antizionisten, Traditionalisten und Reformistinnen, Israel gegen die Diaspora, sowie die vielen Abstufungen, die dazwischen liegen.
«Dieser multikulturelle Aspekt des Jüdisch-Seins ist wirklich faszinierend, aber er macht es zugleich erheblich komplexer», sagt Michel Rappaport, Direktor des jüdischen Filmfestivals Yesh!Externer Link in Zürich.
Das Wort «Yesh» besitzt im Hebräischen viele Bedeutungen, grundsätzlich benennt es die Existenz oder Anwesenheit von etwas. Im Fall des Festivals sind dies 34 Filme, die vom 7. bis 14. November in der grössten Schweizer Stadt gezeigt werden.
Dazu kommen Fragerunden mit Regisseurinnen und Regisseuren und eine Debatte über den kontroversen Dokumentarfilm «Israelism» von Erin Axelman (USA).
Alles in allem bietet das Festival viele Gelegenheiten, um über die ewige Frage nachzudenken, was es bedeutet, jüdisch zu sein.
Vor allem für nichtjüdische Menschen
Yesh! ging aus einer Gruppe von Filmbegeisterten in der jüdischen Gemeinde Zürichs hervor und feiert dieses Jahr seine zehnte Ausgabe. Für den Architekten Rappaport ist der wichtigste Grund, fast die Hälfte seiner freien Zeit in diese Veranstaltung zu investieren, das Festival zu einer Plattform für offene Diskussionen zu machen und Menschen, jüdisch und nichtjüdisch, über das Medium Film zusammenzubringen.
«Wenn das Festival sich nur an Jüdinnen und Juden richten würde, würde ich es nicht machen», sagt er.
Über die vergangenen zehn Jahren hat sich Yesh! professionell entwickelt und füllt mittlerweile die örtlichen Kinosäle.
Rappaport führt diesen Erfolg zum Teil auch darauf zurück, dass das Festival sein Profil geschärft hat und mehr «progressive» Filme zeigt, die nicht unbedingt allen gefallen.
«Das heisst nicht, dass sie unsere Meinung widerspiegeln», sagt er. «Manche Leute halten das für provokant, aber wir wollen nur eine sachliche Diskussion anregen.»
Das diesjährige Programm bietet eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilmen aus 14 Ländern, darunter der umstrittene Beitrag «No Other Land».
Der von einem palästinensisch-israelischen Kollektiv produzierte Film erhielt bei den letzten Internationalen Filmfestspielen Berlin (Berlinale) im Februar den Preis für den besten DokumentarfilmExterner Link.
Doch die Regisseure – der Palästinenser Basel Adra und der Israeli Yuval Abraham – ernteten heftige Reaktionen, darunter auch Morddrohungen, nachdem sie in ihrer Dankesrede zu einer friedlichen Koexistenz aufgerufen hatten.
Einige israelische und deutsche Politikerinnen und Politiker bezeichneten den Film als antisemitisch. Doch das schreckte Rappaport nicht ab.
Der 7. Oktober
«Es ist zu einer Tradition geworden, dass Yesh! auch palästinensische Filme zeigt, da sie für Jüdinnen und Juden und für die ganze Welt wichtige Themen adressieren – erst recht, nach dem, was am 7. Oktober letzten Jahres passiert ist», sagt er.
Und damit sind wir zu dem unvermeidbaren Thema vorgestossen – den Terroranschlägen der Hamas vom 7. Oktober und Israels Antwort darauf, die sich vom Gazastreifen auf den Libanon, auf Syrien und den Iran ausgeweitet hat und auf einen regionalen Krieg zusteuert.
Jüdinnen und Juden, die ausserhalb Israels leben, können sich der Debatte über diesen Konflikt nicht entziehen, und er konnte auch bei der Zusammenstellung des Programms nicht ausser Acht gelassen werden, so der Festivalleiter.
Rappaport weist darauf hin, dass israelische Filme nur die Hälfte des Festivalprogramms ausmachen und nur einer nach dem 7. Oktober gedreht wurde – der Dokumentarfilm «Supernova» über den Wüsten-Rave, den die Hamas überfallen hat.
«Es dauert drei Jahre oder länger, um einen Film zu drehen. Alle anderen wurden vor dem 7. Oktober produziert», sagt er. «Man könnte einwerfen, dass sie veraltet sind, aber sie sind immer noch sehr aktuell. Vielleicht sind sie durch das, was passiert ist, sogar noch relevanter geworden.»
Tragischerweise befanden sich unter den Hamas-Opfern viele Menschen, die sich mit dem so genannten «Friedenslager» identifizierten – einer beständig schwächer werdenden politischen Kraft in Israel.
Auch die israelische Filmszene zählt zu den wenigen verbliebenen Räumen der Gesellschaft, in denen die Progressiven dominieren. Das hat ihr im Ausland allerdings nicht viel Sympathie eingebracht.
Im September veröffentlichten 300 Filmemacherinnen und Filmemacher einen offenen BriefExterner Link, in dem sie den Boykott von zwei der israelischen Filme im Festival-Programm forderten. Einer davon ist «Why War» von Amos Gitai, dem wohl wichtigsten israelischen Filmemacher und langjährigen Kritiker Israels.
Das Diaspora-Problem
Die Ereignisse in Israel und im Nahen Osten erschüttern Rappaport zutiefst. Er glaubt, dass die israelische extreme Rechte mit ihrer explosiven Mischung aus Nationalismus und Religion die jüdische Identität gekapert hat.
«Es ist wirklich eine Schande, dass wir uns von Israel distanzieren müssen, was wir eigentlich nicht wollen. Aber ab einem gewissen Punkt haben wir keine andere Wahl», sagt er.
Rappaport räumt jedoch ein, es sei vielleicht unfair, die israelische Gesellschaft von ausserhalb des Landes zu kritisieren.
«Wir schicken unsere Kinder nicht zum Militär», sagt er. «Es fällt mir schwer, den Israelis die Schuld zu geben. Sie haben ihr ganzes Leben inmitten von Feinden verbracht und wir wissen, was am 7. Oktober passiert ist. Vielleicht ist ihr Verhalten eine normale Reaktion. Ich weiss nicht, wie ich reagieren würde.»
«Aber auf der anderen Seite suchen sie nicht den Abstand zum Geschehen. Sie brauchen die Diaspora, um ihnen zu sagen: ‹Schaut, geht einen Schritt zurück und seht, was ihr tut.›. Die Konflikte mit den Palästinensern kommen nicht aus dem Nichts. Ich gebe nicht den Israelis die Schuld, aber in den letzten 70 Jahren ist so vieles schiefgelaufen.»
Oft fühle er sich sprachlos, gesteht er. «In den letzten 30 Jahren waren die Israelis wie blind. Sie hatten eine perfekte Wirtschaft, die Hightech-Industrie boomte. Aber vor ihrer Nase wurde Israel von den Besetzten besetzt. Ich habe immer befürchtet, dass eines Tages etwas passieren würde, denn es konnte nicht ewig so weitergehen. Und es passierte dann leider vor einem Jahr.»
Zusammenkommen?
Noch in diesem Monat findet in Genf ein dem palästinensischen Film gewidmetes Festival statt, die 13. «Rencontres Cinématographiques Palestine, Filmer c’est Exister»(27. November bis 1. Dezember).
Es gab bereits ein weiteres Festival in Zürich, zu dem Rappaport ebenfalls eingeladen war, aber Yesh! und diese beiden Veranstaltungen haben keine Verbindungen.
Rappaport sagt, er habe auch darüber nachgedacht, ein jüdisch-palästinensisches Festival in der Schweiz zu organisieren. «Vielleicht in ein paar Jahren, aber es wäre etwas ganz anderes als Yesh!», sagt er.
Für die palästinensische Seite wäre eine solche Kooperation nicht einfach, fügt er hinzu. «Ich wollte bei Yesh! einen palästinensischen Film zeigen, aber die arabischen Produzenten haben den Verleihern gesagt, dass sie uns den Film nicht geben würden», sagt er.
«Die Palästinenser werden auch von Leuten hinter den Kulissen in der arabischen Welt unter Druck gesetzt, keinen Kontakt zu Juden aufzunehmen, um mit ihnen zusammenzuarbeiten oder gar Frieden zu finden.», so Rappaport.
«Es gibt in Zürich Menschen und Organisationen, welche die jüdische und palästinensische Seite zusammenbringen und mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. Vermutlich ist es für mich viel einfacher, mich auf so etwas einzulassen als für sie.»
Rappaports Suche nach Annäherung an die andere Seite beginnt mit dem Bewusstsein für die palästinensische Notlage und erfordert die Imaginationskraft, sich das friedliche Zusammenleben beider Seiten vorzustellen.
«Es gibt zu viele Waffen und keine einzige positive Vision für eine Zukunft in Frieden», beklagt er. «Was die Vision anbelangt, so haben wir bisher nur die Filme.»
Editiert von Simon Bradley, Übertragung aus dem Englischen: Petra Krimphove/cr
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