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IV-Revision: Das Schwierigste kommt noch

Für die Presse hat die Arbeit zur IV-Gesundung erst begonnen. swissinfo.ch

Die Schweizer Medien zeigen sich durch die klare Annahme der 5. IV-Revision nicht überrascht. Die finanzielle Schieflage dieser Sozialversicherung habe eine Reaktion erfordert.

In einem Punkt sind sich die Kommentare einig: die härteste Herausforderung kommt noch. Man müsse die Revision nun umsetzen und vor allem neue Finanzmittel finden.

«Die Behinderten haben sich politisch verrechnet. Sie sind bei der Referendumsabstimmung über die 5. IV-Revision deutlich unterlegen», stellt der Tages-Anzeiger fest.

«Trotzdem gehören sie zu den Gewinnern des gestrigen Sonntags. Die Invalidenversicherung wird künftig pro Jahr 500 Millionen in Integrationsmassnahmen investieren und so einen Kulturwandel in der Arbeitswelt einleiten.»

Der Berner Bund ist in dieser Hinsicht skeptischer: «Man muss ehrlich sein: Der Kurswechsel, der mit Leistungskürzungen für Behinderte verbunden ist, hat wohl nur deshalb eine klare Mehrheit gefunden, weil dieses Sozialwerk letztlich bloss für einen kleinen Teil der Bevölkerung relevant ist.»

Jetzt geht es um die Umsetzung

Ärmel aufkrempeln, heisst es für den Genfer Le Temps: «AI: et maintenant, au travail!» – IV: und jetzt an die Arbeit! Denn am Versprechen, dass die Invaliden- zur Integrationsversicherung werde, müssten sich die Befürworter der 5. IV-Revision in einigen Jahren messen lassen, kommentiert die Berner Zeitung. «Mit dem Slogan ‹Arbeit vor Rente› konnte den Stimmenden sogar ein Abbau von Versicherungsleistungen abgerungen werden.»

Das St. Galler Tagblatt will beim Thema Wiedereingliederung aber auch die IV-Stellen in die Pflicht nehmen. An ihnen sei es, dieses Kernelement der Vorlage umzusetzen.

Gefordert seien nebst den Politikern in Bundesbern nun auch die Arbeitgeber, betont Le Temps. Sie müssten den Grundsatz «Integration vor Rente» umsetzen, schreibt auch die Basler Zeitung.

Die Tessiner La Regione ist dagegen überzeugt, die Reintegration von behinderten Arbeitnehmnern sei eine Utopie, solange für die Arbeitgeber keine verbindlichen Richtlinien bestünden.

Schlammschlachten mit schwachem Mobilisierungseffekt

Die eher magere Stimmbeteiligung zweigt für den Winterthurer Landboten aber auch, «dass die Missbrauchspolemik der SVP und deren Schlammschlacht um ‹Scheininvalide› ebenso wenig mobilisieren konnte wie die reisserische Bildkampagne mit ‹behinderten› Bundesräten».

Auch die Neue Zürcher Zeitung ist überzeugt, dass ein weiterer, äusserst wichtiger Schritt zur Sanierung der «mehr als angeschlagenen Invalidenversicherung» getan sei. Aber: «Mit dem Ja ist die IV aber noch nicht über den Berg.»

Eine Lösungsmöglichkeit ist da die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes. Dieser Schritt ist auch für den Bund unabdingbar. Er erinnert die Freisinnigen (FDP), die Christlichdemokraten (CVP) und die Sozialdemokraten (SP) daran, dass sie sich bereits für diese unpopuläre Massnahme ausgesprochen haben.

SVP will mehr

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Abstimmungsresultate forderte die Schweizerische Volkspartei (SVP) eine 6. Revision der Invalidenversicherung. «Diese Volksabstimmung zu gewinnen, wird nicht einfach sein. Wenn die SVP jetzt erklärt, statt zusätzliche Mittel brauche es eine weitere Sparrunde, treibt sie ein frivoles, wahltaktisch motiviertes Spiel», so der Bund.

Ganz ähnlich sieht das die Neue Zürcher Zeitung: «Auch wenn die Revisionsvorschläge der SVP noch nicht im Detail bekannt sind: Die Partei schiesst damit übers Ziel hinaus.»

Denn die Stimmbürger hätten Ja zur 5. Revision gesagt, zu einer Vorlage also, die wie alle anderen auch einen politischen Kompromiss darstelle. «Indem die SVP Teile ihrer Vorschläge, die im Parlament Schiffbruch erlitten hatten, wieder hervorkramt, zeigt sie sich als schlechte Gewinnerin.»

Und der Blick bezichtigt die SVP der «billigen Stimmungsmache auf dem Buckel der Schwächsten.

Auf den Punkt bringt es das Oltner Tagblatt: «Wer an die Tauglichkeit der 5. IV-Revision glaubt, braucht jetzt nicht schon nach einer sechsten zu rufen.»

Neuer Röstigraben?

Der Quotidien jurassien schliesslich kommentiert den Umstand, dass vier Westschweizer Kantone die Vorlage ablehnten. Nach Ansicht des Kommentators bezweifelt die Mehrheit in Neuenburg, Genf, Freiburg und Jura, dass die Wirtschaft die nötigen Anstrengungen zur Integration von Behinderten freiwillig unternehmen werde.

Die Freiburger La Liberté sieht im sonntäglichen Urnengang gar einen neuen Röstigraben: In der Westschweiz sei die Sensibilität für soziale Fragen offenkundig grösser als in der Deutschschweiz.

swissinfo, Etienne Strebel

59,1% Ja zur 5. IV-Revision

Höchster Ja-Anteil: 79,5%, Appenzell Innerrhoden

Tiefster Ja-Anteil: 45,4%, Jura

Stimmbeteiligung: 35,8%

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