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Werden Jäger zur bedrohten Spezies?

Ein Jäger mit einem Reh auf seinen Schultern
Landwirt Andreas Käslin, eine der drei Hauptfiguren des Films, nach einem erfolgreichen Jagdtag. Stefan Vogel

Das Bünder Stimmvolk befindet am 13. Juni über eine Initiative, welche die Jagd im Kanton stark einschränken will. Sehr kritisch gegenüber der Vorlage ist Jäger und Filmemacher Mario Theus. Er hofft, dass er mit seinem neuen Dokumentarfilm dem Publikum die Augen für eine Welt öffnen kann, "die kaum jemand versteht".

«Wenn man eine Stunde lang durch Youtube klickt und sich die falschen Videos anschaut, hat man nur ein Bild von der Jagd: dass es eine grausame Art ist, ein Tier zu töten», sagt Mario Theus in seiner mit Geweihen verzierten Hütte im Calancatal im Kanton Graubünden.

«Der beste Weg, jemandem verständlich zu machen, worum es bei der Jagd geht, ist, ihn mitzunehmen», sagt Theus. «Wenn Sie wirklich wissen wollen, warum ich tue, was ich tue, warum ich so lebe, wie ich lebe, oder die grosse Frage – wie ich in der Lage bin, ein Tier zu töten –, dann bringt Schreiben oder Debattieren nicht viel. Sie müssen mich begleiten. Sehen, was ich während der Jagd erlebe. Sie werden erkennen, was mich glücklich, aber auch traurig macht und was geschieht, wenn ein Mensch mit dem Töten konfrontiert wird.»

Weil er nicht Jede und Jeden mitnehmen kann, hat Theus einen Dokumentarfilm gedreht. Während vier Jagdsaisons streifte er durch die Wälder und Täler dreier Schweizer Kantone und begleitete Menschen, für welche die Jagd eine zentrale Rolle spielt: Einen ehemaligen Wilderer, eine Wildhüterin und einen Bauern.

Das Ergebnis ist «WILD – Jäger und Sammler»Externer Link, ein 90-minütiges Porträt des Lebens in Schweizer Bergregionen und des Wesens der Jagd.

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«Ich gehörte zu den Glücklichen, die in eine Jägerfamilie hineingeboren wurden», sagt der 41-jährige Theus. «Schon als Zwei- oder Dreijähriger war ich oft draussen. Ich ass Reh oder Hase, und meine Eltern erklärten mir die Spuren im Schnee. ‹Das ist das Tier, das du gestern gegessen hast›, sagten sie mir.»

Er habe schon mit vier Jahren gewusst, dass das Jägerleben seiner Natur entspräche, sagt er. Nach dem Studium des Forstingenieurwesens an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) arbeitete Theus als Journalist und Filmemacher. Doch das Leben, das er lebte, gefiel ihm nicht. Vor sechs Jahren fiel er in eine Depression.

Mann mit Kamera
Mario Theus schiesst nicht nur mit dem Gewehr, sondern auch mit der Kamera. Stefan Vogel

«Ich merkte, dass ich nicht in der Welt war, in der ich sein wollte. Ich arbeitete in der Stadt und ging nur in meiner Freizeit in die Berge und Wälder», erzählt er. «Wenn ich einen normalen Job ausübe, bin ich wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig steckt. Ich fange an, mich im Kreis zu drehen. Ich bin unglücklich, und am Ende gehe ich geistig ein.»

Also kündigte Theus und machte sich als Filmemacher selbstständig. Ursprünglich wollte er einen Dokumentarfilm über die Schweizer Raubtiere drehen: Bären, Wölfe und Luchse. Aber nach einem Gespräch mit seinem Produzenten Martin Schilt entschied er, den Fokus stattdessen auf die Jäger zu legen, «weil dies das meiste Potenzial für eine emotionale und filmische Reise bot».

Der Charakter der Jagd

«WILD» ist weder didaktisch noch moralisierend. Stattdessen ist es ein authentisches Porträt einer Lebensweise, die den meisten Menschen fremd ist. Atemberaubende Drohnenaufnahmen von Schweizer Bergen und Wäldern wechseln sich ab mit interessanten Porträts von Jägern.

Einer der Protagonisten ist der Walliser Urs Biffiger, ein reuiger Wilderer, der sein Gewehr mit der Filmkamera getauscht hat und bereits mehrere erfolgreiche Dokus über die Schweizer Tierwelt produziert hat, zum Beispiel über Steinadler oder die Hirsche im Oberwallis.

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Theus erzählt, wie sie während den Dreharbeiten mehrere Nächte hintereinander im Wald verbrachten und Kisten mit Essen und Trinken ausgruben, die Biffiger versteckt hatte, um den richtigen Moment nicht zu verpassen. «Es ist erstaunlich, wie gut er den Wald lesen kann und weiss, wie sich die Hirsche verhalten. Man könnte denken, dass man so jemanden nur in Afrika oder Nordamerika findet.»

Theus begleitete auch Andreas Käslin, einen Jäger und Landwirt auf einer Alp im Kanton Nidwalden. In einer der denkwürdigsten Szenen des Films wird Käslin von einem seiner Kinder gefragt, warum er einer soeben erlegten Gemse einen Tannenzweig ins Maul gestopft habe. Rührend erklärt Käslin, dass der «letzte Bissen» ein Zeichen der «Ehrfurcht» für das Tier sei und dieses nun auf seiner Reise in den Himmel keinen Hunger mehr haben werde.

Ein toter Hirsch mit einem Zweig im Maul
Der «letzte Bissen» wird verabreicht. Stefan Vogel

Pirmina Caminada ist die erste Wildhüterin der Schweiz und hat wohl eines der schönsten Büros der Welt: Das Val Uastg im Kanton Graubünden. In einer ebenfalls denkwürdigen Szene köpft Caminada ein totes Reh, während im Hintergrund Kinder spielen.

«Nicht das Töten fasziniert»

Während Theus das Jagd-Gen von seinem Vater geerbt hat, wurde seine Schwester Tierärztin. Eine Szene, in der sie einer betäubten Katze die Zähne putzt, zeigt einige der Widersprüche in der Einstellung vieler Menschen zu Tieren und dem Fleischkonsum.

Er wolle niemandes Weltbild auf den Kopf stellen, sagt er. «Ich möchte die Zuschauerinnen und Zuschauer bloss zum Nachdenken bringen. Wenn sie das Kino verlassen und denken, dass das alles verrückte Idioten sind, oder dass es selbstverständlich ist, dass ein Hund wie ein Mensch behandelt wird, dann sollen sie das. Ich denke aber, dass jene, die offen genug sind, ins Grübeln kommen werden.»

Der Film «WILD – Jäger und Sammler»Externer Link, bei dem Mario Theus Regie führte, feierte an den Solothurner Filmtagen im Januar Premiere.

Der Film wird im Juli und August in Openair-Kinos in der ganzen Schweiz gezeigt und soll am 21. Oktober in die Kinos kommen.

Die Produktion wurde von den rätoromanischen und deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Sendern RTR und SRF unterstützt.

Eines der wichtigsten moralischen Argumente gegen die Jagd ist, dass das Töten von Tieren grausam ist. Wie also rechtfertigt es Theus?

«Es ist eine schwierige Frage, die impliziert, dass Jäger etwas tun, das sonst niemand tut. Natürlich ist es edler, etwas nicht zu töten. Doch wie der Film zeigt, wachsen Jäger nicht mit einer Faszination fürs Töten heran, sondern mit einer Faszination für die Natur mit all ihrem Leben», sagt er.

«Leider dreht sich die Jagd-Debatte oft nur um die eine Frage. Ja, ich habe etwas getötet, aber nur, weil ich es später essen will. Warum haben so viele Menschen ein Problem damit? All das Fleisch, das sie in Plastikfolie verpackt im Laden kaufen können, gehörte einst einem Tier, das auch getötet wurde. Also ist das Problem der Kritikerinnen und Kritiker vielleicht, dass ich sie unbewusst daran erinnere, was mit unseren Lebensmitteln geschehen ist.»

Kalb in einem Gehege
Ein «goldener Käfig»: Der Dokumentarfilm soll die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Nachdenken über ihre Einstellung zu Wildtieren, Nutztieren und Haustieren anregen. Mario Theus

Vegetarierinnen und Veganer mögen argumentieren, dass alles Fleisch tabu sein sollte – egal, ob es nun von einem Tier stammt, das man selbst getötet hat oder aus dem Supermarkt-Regal. Doch der australische Moralphilosoph (und Veganer) Peter Singer, ein Pionier der Tierrechts- und Tierschutzbewegung, gibt zu bedenken, dass die Hirschjagd unter bestimmten Umständen ihre Berechtigung habe.

«Viele Menschen, die Schinken oder Poulet aus Massentierhaltung im Supermarkt kaufen, sind schnell darin, die Jagd zu verurteilen; dabei ist die Jagd vertretbarer als die Massentierhaltung», schreibt Singer in seinem Buch «Praktische Ethik».

«Wenn wir die Hirschjagd in jenen Regionen der USA betrachten, wo es ausser dem Menschen keine Raubtiere mehr gibt, welche die Hirschpopulation in Schach halten können, stellen wir folgendes fest: Die Rehe vermehren sich, bis sie nicht mehr genug zu essen haben und beginnen, die Umwelt zu zerstören. Letztlich verhungern viele», schreibt Singer.

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«Jäger argumentieren, dass ein schneller Tod durch eine Kugel besser ist als ein langsames Verhungern. Und Umweltschützer erklären, dass die hohe Rehdichte auch dazu führe, dass andere Arten, sowohl Pflanzen als auch Tiere, gefährdet werden. Dass der Tod durch eine gezielte Kugel dem Verhungern vorzuziehen ist, ist unbestreitbar – und das gilt selbst dann, wenn Rehe ein Bewusstsein haben.»

In seinem Film zitiert Theus einen seiner Forstwirtschafts-Professoren, der einst gesagt habe: «Das einzige gute Reh ist ein totes Reh.» Ist das immer noch die akzeptierte Ansicht? «Das ist gesunder Menschenverstand für Förster. Ich habe an der ETH Forstingenieurwesen studiert. Unter den dreissig Studenten waren nur drei Jäger. Und diese hatten eindeutig eine andere Einstellung zum Wild», sagt Theus.

«Der klassische Förster interessiert sich für den Wald und dessen Schutzfunktion oder wie der Wald für die Erhaltung und Bereitstellung von sauberem Wasser sorgt. Wildtiere sind nur ein problemverursachender Faktor in diesem System. Dasselbe sehen wir bei einem Bauern, der Rinder oder Schafe hat: Er ist an den Schafen interessiert und an dem Gras, das seine Schafe ernährt. Und er will seine Tiere vor dem Wolf schützen.»

Und Theus ergänzt: «Obwohl also ein Wolf Teil der Natur ist, hat er es schwer. Beim Förster ist es nicht der Wolf, sondern das Reh, denn das Reh frisst die Bäume. Der Jäger ist hier dem Bauern viel näher: Er mag die Rehe und tut sich schwer damit, alles zu mögen, was die Zahl der Rehe gefährdet oder reduziert.»

Wölfe: Bereicherung oder Gefahr? Unser historischer Überblick:

Eine aussterbende Tradition?

Theus glaubt, dass sich die Lebensweise der Jäger, wie er sie ihn seinem Film dokumentiert, während der letzten 50 Jahre kaum verändert hat. Er wisse aber nicht, wie die Situation in 50 Jahren aussehen werde. «Vielleicht wird es dann noch weniger Menschen geben, die das können», sagt er. «Einen Typen wie Andreas Käslin wird man wohl in 50 Jahren nicht mehr finden. Es ist ein Lebensstil, der nicht viele Anhänger findet.»

Die Jäger der Zukunft werden auf Hightech setzen, glaubt er. «Sie werden wie Soldaten sein. Sie werden als Jäger in dem Sinne erfolgreich sein, dass sie ihre Beute erlegen können, aber was sie verlieren werden, ist das, was viele Nichtjäger bereits verloren haben: Nähe und Bezug zur Natur und deren Lebewesen.»

Die Abstimmung

Ein Schritt in diese jagdfreie Richtung könnte am 13. Juni gemacht werden, wenn die Bündner Stimmberechtigten über die Volksinitiative «Für eine naturverträgliche und ethische Jagd» befinden. Unter anderem will die Initiative, dass Kinder bis zu zwölf Jahren nicht auf die Jagd mitgenommen und in der Schule nicht zur Jagd motiviert werden dürfen.

Mann und Kinder
Andreas Käslin mit seinen Kindern, nachdem sie die Geburt eines Kalbes beobachtet haben. Mario Theus

Es überrascht nicht, dass die Jagdverbände (und die kantonale Regierung) die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auffordern, die Initiative abzulehnen. «Natürlich bin ich auch dagegen», sagt Theus. «Ich wäre gegen jedes Gesetz, das Eltern vorschreibt, welche Kultur sie ihren Kindern beibringen sollen.»

Er sagt, das offizielle Argument sei, dass man Kinder vor angeblicher Grausamkeit und Gewalt schützen wolle. Doch Theus vermutet, dass die Zahl der Jäger langfristig gesenkt werden soll.

«Die Jahre vor dem zwölften Lebensjahr sind eine prägende Zeit», sagt er. «Wenn Kinder in dieser Phase nicht an die Jagd herangeführt werden, werden sie wohl nie zu Jägern werden. Die Initianteninnen und Initianten wissen das auch.» Theus, der normalerweise ruhig und gelassen ist, wird emotional und lebhaft, wenn er an seine eigene Kindheit und die gemeinsame Jagd mit dem Vater zurückdenkt.

Der Landwirt Andreas Käslin wirkte im Film auch besorgt über die Zukunft seiner Lebensweise, die er von seinem Vater geerbt hatte und auch an seine Kinder weitergeben möchte. «Jagen und lernen, mit der Natur und den Bergen zu leben, ist etwas, das wir brauchen», sagt Käslin im Film. «Es ist ein Stück Kultur, ein Stück Schweiz, ein Stück Leben.»

*Update 13.6.2021: 79% der Stimmenden lehnten beim Urnengang die Initiative ab.

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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