«Je suisse» – Spiegelbild der Schweizer Literatur von heute
In der aktuellen Schweizer Literatur ist das Land kein Thema mehr. Die jungen Schweizer Autoren widmen sich den Irrungen und Wirrungen des Ichs.
In ihrem Buch «Je suisse» zeigt die Literaturkritikerin Pia Reinacher auf, wie sich die Schweizer Literatur verändert hat.
Lange war Literatur aus der Schweiz vor allem Literatur über die Schweiz, lautet eine der Hauptthesen Pia Reinachers. Seien es Paul Nizon, Niklaus Meienberg, Franz Hohler oder Hugo Loetscher – der «Vaterlandsdiskurs gehörte zwingend zu ihrem literarischen Repertoire, die stürmische Hassliebe zur Heimat war eine zentrale Triebkraft ihres Schreibens».
Heute dagegen gebe die Heimat höchstens noch den Hintergrund der Erzählungen ab. Sie interessiert aber nicht mehr als politische Kategorie.
Generationenwechsel
Pia Reinacher stellt fest, dass sich in der Deutschschweizer Literatur – französisch- oder italienischsprachige Autoren kommen bei ihr nicht vor – ein Generationenwechsel vollzogen hat.
Neben Autoren wie etwa Peter Bichsel, Jörg Steiner, Adolf Muschg, die sie als «Königsmacher der helvetischen 68er Bewegung» bezeichnet, seien in aller Stille Schreibende getreten, die sich anders mit ihrer Heimat befassen, schreibt die Literaturkritikerin.
Liebe, Sex und Partnerstress
«Das literarische Herz dieser nachrückenden Generation schlägt weder für noch gegen das Vaterland, sondern viel mehr für die eigene Biografie, für Liebe, Sex und Partnerstress», schreibt Pia Reinacher. Bezeichnend für ihre Texte sind zu dem der «Ausbruch aus der Enge, das plötzliche Sprengen der Schweizer Grenzen und die neuen Lebensentwürfe, die sich weder an nationalen Zuschreibungen noch an patriotischen Traditionen orientieren».
Zoë Jenny und Peter Weber werden neben anderen genannt, auch Ruth Schweikert, Perikles Monioudis oder Peter Stamm. Deren Werke sind es, die den solchermassen bezeichneten «literarischen Paradigmen-Wechsel», die plötzliche inhaltliche Wende, belegen.
Autoren dichten wieder
Mit den Inhalten haben sich auch die Formen geändert. Die jungen Literaten sind nicht mehr wie die Autoren der «politischen» Bücher dem Dokumentarischen und Authentischen verhaftet. Sie dichten vielmehr, träumen, erfinden und schwadronieren.
Diesen neuen Trends folgen auch ältere Autoren wie Adolf Muschg oder Jörg Steiner, die früher der engagierten Literatur verpflichtet waren. Ihm folgen aber vor allem junge Autoren und Autorinnen wie die Schweizer Shootingstars Peter Weber, Zoë Jenny und Peter Stamm.
Mit ihren übergreifenden Themen werden sie auch für Leser ausserhalb der Schweiz interessan, die sich nicht für helvetische Nabelschauen begeistern. Und der Erfolg steht nicht aus.
Während es früher schon als beachtlich gegolten habe, so Pia Reinacher, wenn Schweizer Autoren 3000 bis 5000 Exemplare eines Titels absetzen konnten, hat Zoë Jenny schon über 250’000 Mal allein ihr Buch «Das Blütenstaubzimmer» (1997) verkaufen können.
Trendmeldungen
Ganz neu ist der grosse Erfolg allerdings nicht. Schliesslich waren auch die Auflagen von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt ganz ordentlich, und die beiden haben in ihren Texten ja auch nicht nur die Schweiz problematisiert.
Darauf weist Pia Reinacher in diesem Zusammenhang nicht hin. Aber darum geht es auch nicht. Sie will nicht Gesetze für Literatur aufstellen und eine grosse Zahl sehr unterschiedlicher Bücher auf einen Nenner bringen. Es geht ihr vielmehr um Trends, die zu entdecken sind, auch wenn einzelne Bücher und Autoren sich nicht einpassen lassen.
Dieser Versuch ist gelungen: Pia Reinachers Buch hilft, sich einen Überblick über die Schweizer Literatur der Neunzigerjahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts zu verschaffen.
swissinfo und Sabine Schmidt (sfd)
Pia Reinacher: «Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur.» Essay. Nagel & Kimche, Zürich 2003
Die renommierte Kritikerin war von 1992 bis 2000 Literaturchefin beim Zürcher «Tagesanzeiger». Seit 2000 ist sie freie Literaturkritikerin bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Weltwoche». In der Deutschschweizer Literaturszene kennt sie sich bestens aus.
Ihre Kenntnisse hat sie in einer Positionsbestimmung zusammengefasst. Sie ist der 60 Seiten lange Einleitungstext des Buchs «Je suisse». Ihm folgen 27 Rezensionen Pia Reinachers, die in überarbeiteter Form nun die Weihe einer Buchveröffentlichung erhalten haben. Sie sollen das, was im Einleitungstext eher allgemein entwickelt wird, an Beispielen belegen.
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