«Es ist einfach Arbeit»: Jean-Frédéric Schnyders Werk wird in Bern gewürdigt
Zwei Ausstellungen in Bern beleuchten gleichzeitig das aussergewöhnliche Werk von Jean-Frédéric Schnyder. Es handelt sich um einen bedeutenden Schweizer Künstler, dessen Projekt darin bestand, überhaupt kein Projekt zu haben, wie er 1969 selbst einmal sagte.
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Geboren in São Paulo, Brasilien, Mitglied der portugiesischen Redaktion und verantwortlich für die Kulturberichterstattung von swissinfo.ch. Studium der Film- und Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitete bei Folha de S. Paulo, einer der führenden Tageszeitungen Brasiliens, bevor er 2000 als internationaler Korrespondent für verschiedene brasilianische Medien in die Schweiz zog.
Von Zürich aus arbeitete Simantob mit Print- und Digitalmedien, bei internationalen Koproduktionen von Dokumentarfilmen und im Bereich visuelle Kunst (3. Biennale von Bahia; Johann Jacobs Museum/Zürich). Zudem war er Gastdozent für Transmedia Storytelling an der Hochschule Luzern, Design & Kunst (HSLU, Camera Arts, 2013-17).
Mich interessiert, wie die Schweiz da gelandet ist, wo sie heute steht und was sie mit der Welt verknüpft, auch jenseits von Heiligenlegenden und Erfolgsgeschichten.
Angefangen hat alles in Bern. Ende der 1960er-Jahre sorgte der renommierte Kurator Harald Szeemann dafür, dass die Berner Kunsthalle – ein Haus für Ausstellungen von Gegenwartskunst ohne eigene Sammlung – zu einem Hotspot für Avantgardekunst wurde.
Damit schaffte Szeemann das Kunststück, Bern als erste Adresse einer neuen, wilden und nonkonformistischen Kunst zu etablieren. Damals pilgerten einige der besten Köpfe aus aller Welt in die verschlafene Schweizer Hauptstadt. Darunter spätere Weltgrössen wie Christo und Jeanne-Claude oder Joseph Beuys.
Der 1945 in Basel geborene Jean-Frédéric Schnyder war einer der wenigen jungen Schweizer Künstler, die Szeemann 1969 zur anthologischen Ausstellung «When Attitudes become Form»Externer Link (Wenn Haltungen Form annehmen) einlud. Dieses kollektive Ausstellungs-Experiment war ein Meilenstein in der Geschichte der Konzeptkunst.
Es brachte 69 Künstlerinnen und Künstler aus Nordamerika und Westeuropa zusammen, darunter Joseph Beuys, Bruce Naumann, Eva Hesse, Lawrence Weiner und viele andere, die in den folgenden Jahrzehnten sehr bekannt werden sollten.
Nun schliesst sich der Kreis in der Kunsthalle Bern. Die Räumlichkeiten sind einer RetrospektiveExterner Link des Werkes von Jean-Frédéric Schnyder gewidmet. Schnyder gibt nicht gerne Interviews. Was aber nicht heisst, dass er nicht gerne spricht. Bei einem Ausstellungsrundgang vor der offiziellen Eröffnung schien er sich jedenfalls ganz zu Hause zu fühlen. Er erzählte Anekdoten zu den einzelnen ausgestellten Werken und riss auch mal einen Witz.
Bern als Nabel der Avantgardekunst
Welche Bedeutung hatten die damaligen Zeiten? Schnyder sagt: «Aus heutiger Perspektive erscheint alles gigantisch, doch eigentlich war es nur ein ganz kleiner Kreis von Menschen. Aber es stimmt, dass damals bedeutende Künstler aus der ganzen Welt in Bern präsent waren. Mehr noch: Wir dachten, hier sei das Zentrum der Welt.»
Der künstlerische Wahnsinn hielt nicht lange an. Die lokale Bevölkerung und die Behörden gingen auf die Barrikaden. Sie empörten sich über die radikalsten Stücke der Ausstellung, die internationale Aufmerksamkeit auf sich zogen – so zerstörte der amerikanische Künstler Michael Heizerfür seine Intervention «Bern Depression» mit einer Abrissbirne den Asphalt auf dem Vorplatz. Sie forderten den Kopf Szeemans. Und tatsächlich: Einen Monat später wurde er von der Leitung der Kunsthalle «zum Rücktritt aufgefordert».
Harald Szeemann unterstützte und förderte die Künstlerkarriere Schnyders. Doch er war nicht einfach ein Kurator, der den jungen Künstler «entdeckte» und in ihn «investierte». Es war wohl vor allem die lebendige Atmosphäre in Szeemanns Kunsthalle, welche Schnyder entscheidende Impulse gab, um seine Kunst nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln und zu einem «ernsthaften Künstler» zu werden.
Malen gegen den Strom
Der in einem Waisenhaus in Bern aufgewachsene Schnyder war ein Autodidakt, der eine Lehre als Fotograf absolviert hatte und so mit der Kunst in Berührung kam. Seine ersten künstlerischen Arbeiten sind in der Nähe der Pop Art anzusiedeln. Auch Trends, wie sie in der Ausstellung «When Attitudes become Form» gezeigt wurden, beeinflussten ihn, genauso wie die «Arte povera» und der so genannte Postminimalismus.
Als die Berner Kreativblase platzte, merkte Schnyder, dass es an der Zeit war, sich neu zu orientieren. Ende der 1960er-Jahre beschloss er, Zeichnen und Malen von Grund auf zu lernen. Dieser Schritt wurde als noch radikaler angesehen als die Kunst, die er in Szeemanns Umfeld gemacht hatte. Denn damals, in den 1970er-Jahren, wurden Malen und Zeichnen nicht mehr als notwendiges Handwerk für einen Künstler erachtet. Ganz im Gegenteil.
In einer Epoche, in der Happenings, Installationen, Konzepte und Performances die Kunst aus ihrem Zwangskorsett befreien sollten, um sie in neue materielle und immaterielle Formen zu giessen, galt die Malerei nicht nur als politisch tot, sondern auch als eine überholte, bürgerliche Kunstform.
Die Suche nach der Einfachheit
Neben der Ausstellung in der Kunsthalle Bern sind eine Reihe von Schnyders Werken im Moment auch in einer Ausstellung des Kunstmuseum BernExterner Link sehen. Die Werke stammen aus der Sammlung des Museums.
Das Kunstmuseum zeigt neben einer beeindruckenden Auswahl an Skulpturen, die perfekt in eine surrealistische Ausstellung passen würden, einige Werke aus den späten 1960ern sowie How to paint (1973), eine Serie von Bildern, die Schnyder gemeinsam mit seiner Ehefrau Margret Rufener angefertigt hat. Der Titel bezieht sich auf die Do-it-yourself-Bücher von Walter T. Foster, die zwischen den 1950er- und 1970er-Jahre sehr beliebt waren.
Interessant war die Reaktion der Kritiker auf die Bilder dieser Serie, die zunächst als Witz aufgefasst und häufig als «Kitsch» bezeichnet wurden. Schnyder wehrt sich bis heute vehement gegen beide Kategorisierungen.
Die «Armut» beziehungsweise Einfachheit dieser Werke weckt auf Anhieb Assoziationen zu den Arbeiten gewöhnlicher Strassenmaler, die sich nicht nur an touristischen Hotspots finden lassen, sondern auch in Wohnungen der ärmeren Gesellschaftsschichten in aller Welt, etwa in Lateinamerika oder Südasien.
«Sie müssen verstehen, dass wir mit dieser Serie nicht einfach ein Experiment starten wollten», sagt Margret Rufener gegenüber swissinfo.ch, «und es war auch kein Scherz. Ganz im Gegenteil: Schnyder liebte diese Sujets wirklich.» Und Künstler Schnyder fügt an: «Ironie ist mir zu mühsam, und ein Bild ist viel Arbeit. Ich kann mich nicht auf einen unausgegorenen Gedanken einlassen, man muss ein wenig Freude an der eigenen Arbeit haben.»
Es ist nur Arbeit
Die Malerei wurde für Schnyder zu seiner bevorzugten Kunstform. In den 1980er- und 1990er-Jahren machte er sich als Wandermaler auf den Weg und schuf Serien, in denen er das Banale auf der Suche nach den einfachsten Formen der Schönheit erkundete.
Berner Veduten, Wartsäle, Bänkli und die Sonnenuntergänge am Zugersee folgen einer ähnlichen Produktionsweise. Der Künstler fuhr mit dem Velo oder dem Zug an gewöhnliche Orte, traf gewöhnliche Menschen und malte gewöhnliche Werke. In ihrer Gesamtheit führen diese Werke dazu, dass er sich der aussergewöhnlichen Schönheit des «wirklichen Lebens» näher fühlt.
Auf dem Rundgang durch die Kunsthalle erzählt Schnyder eine Anekdote aus dieser Zeit, als er Sehenswürdigkeiten von Autobahnbrücken aus malte. Polizistinnen sahen sich seine Bilder an und zeigten sich erfreut, Lastwagenfahrer grüssten ihn oft, so wie es Camionneure tun, indem sie einen Finger vom Lenkrad erheben. Er grüsste sie zurück, «indem ich meinen Pinsel leicht über das Bild hob». Schnyder fühlte sich nie wohl auf dem Sockel des Künstlers.
Er wollte nicht auffallen und war ein Mann der leisen Töne. Trotzdem hat er dem Kunstbetrieb und dem Markt nicht den Rücken gekehrt. Zwei Mal nahm er an der renommierten Documenta teil, die alle fünf Jahre in Kassel (Deutschland) stattfindet. Er vertrat die Schweiz 1993 an der Biennale von Venedig und stellte seine Werke in ganz Europa und den Vereinigten Staaten aus. Auf dem Kunstmarkt wird er von der bedeutenden Galeristin Eva PresenhuberExterner Link (Zürich, New York, Wien) betreut. Heute lebt er in Zug.
Die Grösse und der Umfang seiner Arbeiten unterscheiden sich stark, je nachdem, welches Material verarbeitet wird, sei es Abfall, Holz oder Legosteine. «Für Schnyder ist der Stilpluralismus kein Programm, sondern das Ergebnis einer rigorosen Praxis», bilanziert der Schweizer Kritiker Hans Rudolf Reust. Doch Schnyder beharrt darauf, dass er nichts anderes macht, als sich an die grundlegenden Handwerkskünste wie Malerei, Zeichnung und Skulptur zu halten sowie an die elementaren Formen: Grosse und kleine Leinwände, Miniaturen.
Die Kunsthalle zeigt auch einige Holzarbeiten, «Schreinerzeug» (in Schnyders Worten) und Schnitzereien. So sind etwa 9000 von insgesamt 14’000 geschnitzten und mit Knochenleim zusammengeklebten Holzkreuzen zu sehen. An einer Wand sind die verwendeten Schnitzmesser an einer Schnur aufgereiht, wie eine Kette.
Warum Kreuze? «Es ist einfach die einfachste Form, die sich aus zwei Stücken Holz machen lässt. Das hat nichts mit Esoterik zu tun. Jeder und jede kann darin sehen, was er oder sie sehen will», fügt er hinzu.
Knochenkleber am Kreuz des Erlösers, ein riesiger Friedhof in Miniaturformat – und all das als Werk ohne Symbolik? Das ist schwer zu glauben.
Die Reserviertheit und der scheinbare Anti-Intellektualismus tragen typisch schweizerische Züge. Schnyders Haltung ist gewiss bodenständig, der gewöhnlichen Ordnung der Dinge treu, aber genau diese Ernsthaftigkeit macht aus einem Witz oder einem spöttischen «Kunststück» ein Rätsel. Man kann es nehmen, wie man will, denn Schnyder wird das Rätsel nicht für die anderen lösen.
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