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Jean Tinguely, der Titan vor der Kamera

Niki de Saint Phalle, Bernhard Luginbühl, Josef Imhof und Jean Tinguely. frenetic.ch

Der Zürcher Regisseur Thomas Thümena widmet dem Schweizer Plastiker Jean Tinguely einen Dokumentarfilm. Er läuft ab dieser Woche in den Deutschschweizer Kinos.

«Ich heisse Jean Tinguely und ich mache Maschinen, die keinen Zweck erfüllen», sagt der Freiburger Künstler in die Kamera.

Sein Bekenntnis, mit dem der Dokumentarfilm eröffnet wird, ist sowohl als Aussage als auch als Witz gemeint. Wie die Maschinen, die Tinguely als Provokationen macht; er, der er Wasser speien oder Funken sprühen lässt.

«Ich liebe das Wasser und den Rauch», gibt er zu. Von Paris bis New York liess er seine Konstruktionen explodieren und schüchterte damit die Feuerwehrleute ein.

Explosionen ereignen sich viele im Film «Tinguely». Der Regisseur Thomas Thümena spielt damit. Tinguely ist ein Anarchist, der nur auf sein wankelmütiges Herz hört und auf seine anarchistische Ansicht.

Der verführerische Künstler missfiel der Schweiz und richtete sich 1953 in Paris ein. Dort wurden drei Jahre später in der Galerie Denise René auch seine Werke ausgestellt. Die Galerie widmete sich bewegter Kunst.

Warum nicht in der Schweiz bleiben?

Sein Werk Meta-Matic, riesige Skulpturen aus Alteisen, angetrieben von einer unübersichtlichtlichen Bewegung, präsentierte sich auf der Strasse der französischen Hauptstadt. André Malraux, französischer Schriftsteller und Politiker, gratulierte ihm, die Presse wollte mehr über ihn wissen.

Einem französischen Journalisten, der ihn fragte, warum er nicht in der Schweiz geblieben sei, antwortete er: «Ich ziehe Paris vor, man fühlt sich hier viel freier. In meinem Land gibt es eine Enge, die mir auf die Nerven geht.» Der Journalist fragte: «Lieben Sie die Ordnung?». Tinguely: » Ja, aber ich weiche ihr aus.»

Erst in den 1960er-Jahren konnte die Schweiz ihren Künstler würdigen. Zuerst stellte Tinguely in Bern aus, nachher in Lausanne, wo er an der Expo 1964 seine Skulptur Heureka präsentierte. Heureka zählt zusammen mit dem Zyklop zu seinen Meisterwerken.

Der Regisseur macht mehrere Rückgriffe auf den Zyklop, ein Werk, das sich heute in Milly-la-Forêt in Frankreich befindet. Es scheint, dass der Zyklop etwas Symbolisches in sich trägt, das den künstlerischen Ausdruck übersteigt und auf Tinguely zurückschliessen lässt.

Im Film, der Erzählungen von allen enthält, die den Plastiker aus dem Freiburgischen gekannt oder geliebt haben, sagen diese, dass er ein verbissener Arbeiter war, der durch eine riesige Kraft angetrieben wurde. Er fürchtete sich vor dem, was er als Panne bezeichnete, nämlich vor diesem fatalen Moment, wo die Inspiration und das Leben anhalten.

Der Wille zum Eisen

Jean Tinguely hat mehrere Herz-Kreislaufversagen überlebt. Sein Wille war eisern, resistent wie das Metall, mit dem er arbeitete. Auch dank der Liebe seiner Frau hat er es überlebt. Dieser wird im Film viel Platz zugestanden, weil sie mit Tinguely zusammen ein Künstlerpaar darstellte und als Künstlerin gearbeitet hat.

Niki de Saint-Phalle hat Tinguely 1971 geheiratet. Ins Leben des Künstlers ist sie einige Jahre vorher getreten, wie ein Sturm, wie im Film, der sie anlässlich ihrer berühmten Vorstellung «Tirs» zeigt. Niki schiesst auf alle, im tieferen wie im übertragenen Sinn. Sie zielt mit Karabinern auf Farbtuben.

Dazu sagt sie: «Ich habe auf meine Familie geschossen, auf meine Gesellschaft.» Und Tinguely entgeht ihrem scharfen Blick nicht. Als er ihr zum ersten Mal eine Skulptur von ihm zeigt, sagte sie: «Wenn ich dich wäre, würde ich Federn drantun.»

Leicht und chaotisch ersetzt Niki de Saint Phalle, die französische Künstlerin mit überbordender Fantasie, die erste Frau Tinguelys, Eva Aeppli. Mit ihr hatte er eine Tochter, Myriam, die heute Malerin ist.

Erotische Maschinen

Die Sexualität ist in vielen Werken Tinguelys oder Niki de Saint Phalles präsent. Es ist deshalb kein Zufall, dass Thomas Thümena ein paar Szenen aus «Un rêve plus long que la nuit» (1976), einem Film über spielerische Erotik von Niki, zeigt. Tinguely hat dafür fantastische Maschinen konstruiert.

Mehrere Freunde des Paares haben mit den beiden zusammengearbeitet, darunter der Plastiker Bernhard Lüginbühl, der im Februar verstorben ist.

Der Dokumentarfilm «Tinguely» läuft ab dem 26. Mai in den Deutschschweizer Kinos.

Tinguely wurde 1925 in Freiburg geboren, wuchs in Basel auf und liess sich von 1941 bis 1944 als Dekorateur ausbilden. Nachher belegte er Kurse an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel.

In dieser Zeit lernte er Daniel Spoerri kennen, mit dem er an einem Theaterprojekt arbeitete.

1951 heiratete Tinguely Eva Aeppli, mit der er im Jahr darauf nach Paris zog.

Kurz nachdem Tinguely 1955 in die Impasse Ronsin, nahe Constantin Brâncușis Atelier, zog, lernte er Yves Klein und Niki de Saint Phalle kennen, die er 1971 in zweiter Ehe heiratete.

1960 wurde er Mitglied der Künstlervereinigung der Nouveaux Réalistes, die sich in diesem Jahr unter der Leitung von Pierre Restany konstituierte.

Mit dem Eisenplastiker Bernhard Luginbühl verband ihn eine langjährige Freundschaft. Mit ihm und weiteren Künstlern sowie mit seiner Frau Niki de Saint Phalle realisierte er diverse gemeinsame Projekte.

Tinguely starb 1991 im Alter von 66 Jahren im Inselspital in Bern.

Der Regisseur Thomas Thümena wurde 1967 in Zürich geboren. Er studierte im Zentrum für Medienkunst in New York und später in Züirch Ethnologie, Publizistik und Filmwissenschaften.

Sein Diplom als Regisseur erhielt er an der Kantonalen Schule für Kunst in Lausanne. Zwischen 1997 und 2001 arbeitete er auch als Kamaramann, Beleuchter, Toningeniuer und Monteur.

Seit 1999 arbeitet er mit Hugofilm Zürich zusammen. Er ist der Autor des Dokumentarfilms «Ma famille africaine».

(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

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