«Jedes Land ist ein Sonderfall»
Der alt bewährte Föderalismus könne zum Hemmschuh werden, sagt der Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher. Er plädiert für einen neuen Föderalismus, der über die Schweizer Grenzen hinaus geht.
swissinfo hat den Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher an der nationalen Föderalismuskonferenz in Baden getroffen. Der 78-jährige Loetscher ist ein unermüdlicher Analytiker der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt hat er sich immer wieder kritisch mit der Schweiz auseinandergesetzt. Im Gegensatz etwa zu Dürrenmatt, hat Loetscher die Schweiz jedoch nie als Gefängnis empfunden.
swissinfo: Sie reisen viel und dennoch beklagen Sie sich nie über die Enge der Schweiz. Sieht die Schweiz aus der Distanz grösser aus?
H.L.: Ich glaube, man hat zu seinem eigenen Land ein anderes Verhältnis, wenn man das Ausland kennt. Und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits ist man kritischer und andererseits entdeckt man Eigenheiten, die man vorher gar nicht gesehen hat.
Gleichzeitig merkt man bei vielem, das man als typisch schweizerisch wahrgenommen hat, dass es gar nicht typisch schweizerisch ist, sondern eine Variation von etwas Allgemeinem.
Nach einem Vortrag in Kairo über die Sprachsituation in der Schweiz, das Hochdeutsche und die Mundart, sagte mir ein ägyptischer Autor, sie hätten in Ägypten mit dem Standard-Arabisch als Schriftsprache und ihrem Dialekt genau die gleichen Probleme.
Man verliert im Ausland nicht den Sinn für die Probleme in der Schweiz, aber sie kommen in einen anderen Kontext. Und im Kontext nimmt sich auch das Leiden am Land anders aus.
swissinfo: Man könnte sich doch vorstellen, dass so ein kleines Land wie die Schweiz zentralistisch regiert werden kann. Weshalb ist es dennoch so stark föderalistisch organisiert?
H.L.: Das hat primär einen historischen Hintergrund. Das Land ist aus autonomen Staaten entstanden, aus dem Staatenbund wurde ein Bundesstaat. Das mit den verschiedenen Sprachkulturen ist relativ jung – auf dem Rütli wurde nicht Rätoromanisch gesprochen, auch die Welschen waren nicht dabei. Um die Vielfalt von Kulturen zu bewahren, war eine föderalistische Struktur unerlässlich.
Vieles, das einmal wichtig war vom föderalistischen Standpunkt her, ist überholt. Das bekannteste Beispiel sind unsere Schulen. Wir haben über 20 verschiedene Schulsysteme, das geht natürlich heute allein schon auf Grund der Migration nicht mehr.
Das kann zum Hemmschuh werden, auch in Hinblick auf Europa. Es geht darum, eine neue Form von Föderalismus zu erfinden, ein Föderalismus auf europäischer Ebene, und vielleicht sogar über das Europäische hinaus. Dazu müssen wir im eigenen Land etwas zurückbuchstabieren, wir können uns nicht bis in den hintersten Winkel föderalistisch benehmen.
swissinfo: Die Schweiz steht im Kontext von Europa. Sie unterhält zwar mit der EU bilaterale Verträge, ist aber nach wie vor nicht Mitglied. Schadet das dem Land?
H.L.: Die ganze Europadiskussion ist für mich und meine Generation nicht neu. Für uns war Europa das dringendste Problem, wir wollten nie wieder Krieg.
Ich gehöre zu denen, die einen Beitritt zur EU befürworten und finde es fatal, wenn sich das Land draussen hält. Als Schweizer bin ich ja schon Europäer. Die ganze Kultur weist über das Nationale hinaus, sei es von Genf nach Frankreich oder von Bellinzona nach Mailand oder von Zürich nach Berlin.
Dabei ist für mich ganz entscheidend, dass die alte Vorstellung von Zentrum und Rand hinfällig wird. Früher lag Portugal weit weg, am Rand von Europa, kürzlich stellte es die EU-Präsidentschaft.
Das ist der entscheidende Umdenkungsprozess in einer globalisierten Welt – auf einem Globus ist jeder Punkt ein Zentrum.
Die Konfrontation, wie beispielsweise mit dem Islam, bringt die Notwendigkeit mit sich, sich mit dem anderen zu befassen. Und zu verstehen: Zur eigenen Identität gehört auch das, was die anderen ausmacht.
Im protestantischen Zürich gab es zwar eine katholische Kirche, den Katholiken waren jedoch Turm und Glocken verwehrt worden. Das Läuten übernahm die nächste protestantische Kirche für die katholische. Das wäre doch eigentlich eine Lösung für die Minarett-Diskussion. Man lässt Minarette bauen, aber es darf nicht zum Gebet aufgerufen werden – das besorgt dann die Pfarrerin vom Grossmünster (lacht).
swissinfo: Welche Rolle könnte denn die Schweiz in Europa einnehmen?
H.L.: Es gibt Leute, die sagen, die Schweiz könnte ja mit ihren föderalistischen Erfahrungen so etwas wie ein Exempel statuieren. Da habe ich jeweils eine ganz ketzerische Gegenfrage, und sage: Was würden wir machen, mit allem Respekt, wenn die Bündner schwarz und die Tessiner Muslime wären. Hätten wir dann auch die Möglichkeit gehabt, so leicht ein föderalistisches Staatswesen zu schaffen?
Die Gründung unseres Staatswesens hat unter günstigen Voraussetzungen stattgefunden. Das Land war damals noch verhältnismässig homogen. Heute sind wir damit konfrontiert, sehr heterogene Dinge wie Herkunft und Religion zusammenzubringen. In der Schweiz sprechen heute mehr Leute albanisch oder portugiesisch als etwa rätoromanisch.
Meine Formulierung in Bezug auf Europa ist die: Ein Land unter anderen werden und damit wieder ein Land sein.
Das Problem wird der Balanceakt zwischen Eigenem und Neuem. Da wird die Schweiz einen eigenen Weg finden müssen, genau so wie andere Länder.
In unseren Köpfen spukt eine bäuerliche Vorstellung von der Schweiz herum. Wir sind ein hochtechnologisiertes Land, aber in unserer Mentalität spielen immer noch ein Heidi und Berge eine gewisse Rolle. Nur besitzen die Berge im Innern lauter Boutiquestrassen.
swissinfo: Die Schweiz bezeichnet sich gerne als Sonderfall. Inwiefern trifft das zu?
H.L.: Ich kenne kein Land, das nicht ein Sonderfall ist. Bei der Schweiz hängt dies auch historisch zusammen: Im zweiten Weltkrieg hatten wir insofern das Glück, ein Sonderfall zu sein, als wir mitten im Krieg neutral sein konnten. Aber sonst gibt es eigentlich nichts, das so spezifisch wäre, als dass es sich abheben würde von den anderen.
Ein Zürcher Autor beschrieb bereits Ende des 18. Jahrhunderts die Schweiz als Sonderfall. Der typische Schweizer habe das Gefühl, wir seien eigentlich die Auserwählten, schrieb er.
Nachdem wir merkten, dass wir doch nicht die Allerbesten sind, hiess es plötzlich, wir seien die Miesesten. Das war wieder ein Sonderfall. Wirklich subversiv und provokativ in diesem Land ist der Satz: Wir sind wahrscheinlich so durchschnittlich wie der Rest von Europa. Das ist für viele Schweizer unerträglich, der Gedanke, das wir ungefähr so sind wie die anderen.
swissinfo-Interview: Corinne Buchser und Susanne Schanda
Hugo Loetscher ist 1929 in Zürich geboren. Er gilt heute als einer der bekanntesten Schweizer Autoren.
Nachdem er in Zürich und Paris politische Wissenschaften, Soziologie und Literatur studiert hatte, war er von 1958 bis 1962 literarischer Redaktor der Zeitschrift «du». Es folgte eine Zeit als Feuilletonredaktor und Mitglied der Chefredaktion der früheren «Weltwoche» (1964-1969).
Seit 1965 machte er regelmässige Aufenthalte in Europa, Lateinamerika und Südostasien. Seit 1969 ist er freier Schriftsteller und Publizist. Loetscher ist Gastdozent an Universitäten in der Schweiz, den USA, München und Porto.
Loetscher erhielt zahlreiche Literaturpreise. 1992 wurde er mit dem Grossen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Abwässer, 1963
Die Kranzflechterin, 1964
Der Immune, 1975
Herbst in der Grossen Orange, 1982
Der Waschküchenschlüssel und andere Helvetica, 1983
Die Augen des Mandarin, 1999
Es war einmal die Welt, 2004
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