Junge Schriftsteller-Generation drängt ins Ausland
Stil, Sensibilitäten und Schattierungen sind vielfältig. Die junge Schweizer Literatur überschreitet klar die Landesgrenzen. Oft kommt sie im Ausland besser an als im eigenen Land, wo die Sprachbarrieren schwierig zu überwinden sind. Ein Überblick.
Früher waren die literarischen Grenzen zwischen Frankreich und der Schweiz klar markiert. Heute sind sie mehr und mehr durchlässig.
Die junge Literatur der französischsprachigen Schweiz kommt in den Pariser Buchhandlungen gut an, dies zum einen wegen der hartnäckigen Arbeit von Schweizer Verlagen wie Zoé (Genf) und L’Age d’Homme (Lausanne). Und zum anderen wegen der eigenen Ambitionen: die Vorliebe für das Weite, die der Schreibweise von gewissen Romanautoren einen exotischen Reiz verschafft.
Die Romands und die weiten Räume
Dieser Reiz spricht an. Er kann sogar dazu führen, Preise zu gewinnen. Das ist der Fall bei Aude Seigne und Joël Dicker, beide aus Genf, beide 27-jährig. Aude Seigne durchstreift in Chroniques de l’Occident nomade (Nicolas Bouvier-Preis 2011) den Planeten mit der Leichtigkeit einer Schwalbe.
Joël Dicker hinterfragt in La Vérité sur l’affaire Harry Quebert das Amerika von gestern und heute. Ein Werk, das in zehn Sprachen übersetzt werden soll und am 25. Oktober den grossen Romanpreis der Académie française erhalten hat. Mit seinem Roman war Dicker auch unter den vier Finalisten des Prix Goncourt, den er aber knapp verpasste. Der bedeutendste französische Literaturpreis ging am 7. November an den französischen Autoren Jérôme Ferrari.
Die Vorliebe für das Weite, das trifft auch für Quentin Mouron zu, den 23-jährigen kanadisch-schweizerischen Autor, mit seinen zwei Romanen Au point d’effusion d’égouts, der in Los Angeles spielt, und Notre-Dame-de-la-Merci, dessen Schauplatz Québec in Kanada ist. Dieses jüngste Werk Mourons, in einem kleinen Verlag in La Chaux-de Fonds erschienen und auch in Kanada, Belgien und Frankreich im Verkauf, ist im Rennen für mehrere Preise in der französischsprachigen Schweiz.
Landessprach-Barrieren, aber kein «literarischer Röstigraben»
«Für die französischsprachige Literatur ist der Gang nach Paris unerlässlich. Zur französischen Hauptstadt hat die Romandie übrigens einen besseren Draht als zur deutschsprachigen Schweiz», sagt Isabelle Rüf gegenüber swissinfo.ch. Die Journalistin und Literaturexpertin betont, dass die Schweizer Schriftsteller Mühe bekunden, ein Publikum über die eigene Landessprachgrenze hinaus zu begeistern.
«In Genf oder in Lausanne ist es für die Verleger oft schwierig, den Leserinnen und Lesern Deutschschweizer Autoren schmackhaft zu machen. Leider ist dies umgekehrt auch der Fall», so Rüf.
Ein literarischer «Röstigraben» also? «Nein, den Eindruck habe ich nicht», sagt Urs Engeler gegenüber swissinfo.ch. Der Leiter des Engeler Verlags in Solothurn, der die Werke des auch im Ausland erfolgreichen Bündner Jungautors Arno Camenisch publiziert (siehe Artikel «Zum Thema»), weist darauf hin, dass «viel hin und her» übersetzt werde.
«Von Westschweizer Autoren, die wirklich interessant und gut sind, hören wir in der Deutschschweiz eben so viel wie die Westschweiz von guten Deutschschweizer Autoren hört. Ich sehe da keinen ‹Röstigraben›. Der ‹Graben›, den wir wirklich haben, ist der: Es gibt Leute, die lesen, und Leute, die nicht lesen.»
Dass junge deutschsprachige Autoren vor allem im deutschen Sprachraum Erfolg hätten, könne man zumindest bei Arno Camenisch so nicht sagen, erklärt Verleger Urs Engeler. «Er hat bis jetzt drei Bücher veröffentlicht, zwei davon sind bereits auf Französisch übersetzt, das dritte wird sicher auch noch kommen. Camenisch macht auch Lesungen in der französischsprachigen Schweiz, häufig mit seiner Übersetzerin Camille Luscher zusammen, er ist da sehr aktiv.»
Hilfe bei der Übersetzung
Die Deutschschweiz richte sich dennoch mehr auf Deutschland aus, betont Isabelle Rüf. Dafür gibt es eine Erklärung: Deutschland ist sehr offen für Deutschschweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Eine solche Hauptdarstellerin ist die 1968 in Vojvodina (Ex-Jugoslawien) geborene Melinda Nadj Abonji. Die heute in Zürich lebende Autorin hat 2010 mit Tauben fliegen auf den Deutschen Buchpreis gewonnen. Das vom österreichischen Verlag Jung und Jung publizierte Buch setzt sich, inspiriert vom Leben der Romanautorin, mit Fragen der Immigration und Integration auseinander.
«Melinda ist ein einzigartiger Fall», sagt Angelika Salvisberg von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gegenüber swissinfo.ch. «Mit unserer Unterstützung wurde ihr dank des Deutschen Buchpreises bekannt gewordener Roman ins Französische (Pigeon vole), Englische, Polnische, Schwedische, Italienische und Ungarische übersetzt. Und die Übersetzung ins Chinesische ist unterwegs.»
Pro Helvetia spielt eine wichtige Rolle beim «Export» der Schweizer Literatur. «Wir lassen selber nichts in andere Sprachen übersetzen», sagt Angelika Salvisberg. «Wir unterstützen aber die Bedürfnisse und Anliegen der Verlagshäuser in der Schweiz und im Ausland, natürlich unter der Bedingung, dass die Bücher von guter Qualität sind.»
Für Verleger Urs Engeler ist es klar, dass jeder Autor zuerst in seiner Sprache gelesen werden will. «Aber letztlich ist es ihm wahrscheinlich sogar egal, in welcher Sprache er gelesen wird. Es ist ihm wichtig, dass die Übersetzung gut ist, und wenn sie nicht ganz so gut ist, macht der Autor beide Augen zu und sagt, okay, ich werde trotzdem gelesen. Und das ist die Hauptsache, das A und O, deshalb schreiben die Leute, weil sie gelesen werden wollen. In welcher Sprache und in welchem Land oder Landesteil das passiert, das ist, denke ich, sekundär.»
Die Deutschschweizer und die Musik
Die deutsche Literaturszene ist nicht nur wegen der sprachlichen Gemeinschaft sehr offen gegenüber Deutschschweizer Autorinnen und Autoren, sondern auch wegen der bevorzugten Verbindung mit der Musik, welche die Deutschschweizer Dichter pflegen.
«Viele von ihnen sind Performer. Sie komponieren, singen und treten auf der Bühne auf. Diese gegenwärtige Tendenz im deutschsprachigen Raum betrifft speziell die junge Generation», betont Isabelle Rüf. «Die Beziehung zur Musik beeinflusst die Schreibweise, die sehr rhythmisch ist, in der Tonalität von Slam und Rap. Das ist auch der Fall bei Melinda Nadj Abonji und bei vielen Schriftstellern, die im Kollektiv ‹Bern ist überall› organisiert sind.»
Dieser in Biel ansässigen Spoken-Word-Gruppe gehören Autorinnen und Autoren an, die mehrheitlich vielsprachig sind, darunter auch Pedro Lenz, der Star der Gruppe. Er schreibt auf Deutsch, Schweizerdeutsch und Spanisch. Sein Sprachbezug ist, wie bei vielen seiner «Artgenossen», sehr musikalisch und oral.
Eine andere Bewegung der gleichen Art hat sich um den Romanautoren Peter Weber gebildet. Dazu gehören unter anderen Bodo Hell, Michel Mettler und Anton Bruhin. «Sie alle sind Performer. Dies öffnet ihnen den Zugang zur anglophonen Welt, die gegenüber der Performance-Kunst offener ist als die Frankophonie», so Rüf.
Die Tessiner, illegale Einwanderer und der Krimi
Ganz anders sind die Anliegen der Schriftsteller der italienischsprachigen Schweiz, bei denen die Idee des «Kollektivs» weniger blüht als in der Deutschschweiz. Dafür herrscht bei einigen der Tessiner Schriftsteller eine militante Haltung vor, wie zum Beispiel bei Fabiano Alborghetti. Der 1970 geborene Autor ist politisch engagiert. «Er hat in Italien lange mit Asylbewerbern und illegalen Einwanderern gelebt», sagt Isabelle Rüf.
Aus diesen Erfahrungen entstand Registro dei fragili (Edizione Casagrande Bellinzona), eine Textsammlung, die unter dem Titel Registre des faibles (Editions d’En bas, Lausanne) auch auf Französisch publiziert wurde. Das in mehrere Sprachen (Arabisch, Englisch Türkisch, Slowenisch) übersetzte Werk Alborghettis hat im Ausland mehr Erfolg als die Bücher eines Pierre Lepori, Autor des Romans Sessualità. Ein Werk mit sehr begrenztem Erfolg, obwohl es in drei Schweizer Landessprachen publiziert wurde.
Last but not least ist da noch der 1978 geborene Kriminalautor Andrea Fazioli. Seine Bücher sind in Italien ein Erfolg und wurden auch ins Deutsche übersetzt.
Ein Überblick ist nie vollständig. Zahlreiche andere junge talentierte Schweizer Autorinnen und Autoren wurden hier nicht erwähnt. Aber wenn wir über alle sprechen würden, müssten wir einen Roman schreiben.
Der 1965 in Langenthal, Kanton Bern, geborene Pedro Lenz schloss 1984 die Lehre als Maurer ab. Auf dem zweiten Bildungsweg absolvierte er 1995 die Eidgenössische Matura. Anschliessend studierte er einige Semester spanische Literatur an der Universität Bern. Seit 2001 ist er freiberuflicher Schriftsteller.
Lenz lebt in Olten als Dichter und Schriftsteller und schreibt Kolumnen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, derzeit für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) und die Wochenzeitung (WOZ).
Als Autor ist er Mitglied des Bühnenprojekts «Hohe Stirnen» und der Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall».
Er hat Texte für verschiedene Theater-Gruppen und für das Schweizer Radio DRS verfasst.
Lenz war von 2007 bis 2010 Mitglied des Teams der «Morgengeschichte» von Radio DRS 1. 2008 nahm er an den Klagenfurter Literaturtagen teil.
Pedro Lenz hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. 2005 den Kulturpreis der Stadt Langenthal. Ferner erhielt er zweimal den Literaturpreis des Kantons Bern (2008 für das literarische Gesamtschaffen im vergangenen Jahr und 2010 für «Der Goalie bin ig»).
Für dasselbe Werk wurde er 2011 mit dem Schillerpreis für Literatur der Deutschen Schweiz ausgezeichnet.
Im gleichen Jahr erhielt Pedro Lenz für das Duo «Hohe Stirnen» zusammen mit Patrik Neuhaus erneut den Literaturpreis des Kantons Bern (für ihr Programm «Tanze wie ne Schmätterling»).
Lenz hat auch diverse Poetry-Slams gewonnen.
Der 75-jährige Autor und Germanist Peter von Matt, der vor allem mit seinen Essays brilliert, hat am Sonntag den mit 30’000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis erhalten.
Von Matt erhielt den Preis für seine jüngste Essaysammlung «Das Kalb vor der Gotthardpost».
Die Jury würdigte die politische Dimension des Werkes, weil es «in herausragender Weise zur Gegenwart der Schweiz spricht. In Analysen von grosser sprachlicher Kraft und gedanklicher Originalität beleuchtet Peter von Matt den Zusammenhang zwischen Literatur und Politik».
Von Matt war bis 2002 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Daneben veröffentlichte er Bücher, von denen viele Bestseller wurden.
So etwa «Liebesverrat – Die Treulosen in der Literatur» (1989), «Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur» (1995), «Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz» (2001) und «Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist» (2006).
Von Matt ist der fünfte Träger des Schweizer Buchpreises. Diesem erwächst neue Konkurrenz in den Eidgenössischen Literaturpreisen, die der Bund erstmals am 3. Dezember vergibt.
(Mitarbeit und Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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