Kein Alleskönner – sondern lebenslanger Amateur
Er sei sehr glücklich gewesen in den letzten 20 Jahren, und "es wäre schön, wenn es noch lange so weiterginge", sagt Urs Jaeggi. Der Künstler, Autor und Soziologe feiert seinen 80. Geburtstag mit einer Ausstellung in Berlin.
Markante Falten prägen sein Gesicht, hinter der runden, leicht getönten Brille versteckt sich ein neugieriger, aufmerksamer Blick; der schwarze, locker sitzende «Tschopen» und ein langer Schal betonen seine grosse, aber nicht hagere Gestalt.
Jaeggi hat den runden Geburtstag in Berlin gefeiert, wo der gebürtige Solothurner und seine Frau, eine Kunsthistorikerin aus Argentinien, eine Wohnung besitzen.
In Berlin hat er gerade auch seine jüngste Ausstellung eröffnet. «Kunst ist überall» heisst die umfassende Retrospektive in der Galerie Marianne Grob in Kooperation mit der Berliner Malzfabrik.
In den Werkhallen der ehemaligen Mälzerei, auf über 1000 Quadratmetern, präsentiert Jaeggi noch bis zum 7. August Metallskulpturen, Bilder, Zeichnungen und Videos.
Schaut man sich das Leben des umtriebigen Schweizers an, staunt man ob der Vielseitigkeit seines Schaffens. Ist Jaeggi ein «Alleskönner», wie der Berliner «Tagesspiegel» zu seinem 80. Geburtstag schrieb?
Falsche Entscheidung als Glücksfall
Über diese Bezeichnung regt sich Jaeggi ziemlich auf. Er schüttelt den Kopf. «Niemand ist ein Alleskönner. Wir sind doch alle lebenslang Amateure», sagt er. Es gebe eben Biografien, die einen dazu trieben, nicht nur eine Sache zu machen – so wie seine.
Tatsächlich wollte Jaeggi schon als Kind Maler oder Architekt werden, da er für sein Leben gern zeichnete. Doch als er zwölf Jahre alt war, starb sein Vater, ein Notar und Politiker – und der Junge beschloss, in seine Fussstapfen zu treten.
«Wir waren aber keine reiche Familie, und deshalb kam ein Universitätsstudium nicht in Frage», erzählt Jaeggi. Also überzeugten ihn Freunde des Vaters von einer Banklehre.
Schnell merkte der Junge, dass es nicht das Richtige war, doch er biss sich durch und arbeitete sogar fünf Jahre als Kaufmann. «Man kann diese falsche Entscheidung im Nachhinein auch als Glücksfall bezeichnen», sagt Jaeggi. «Denn sie hat mich zum Lesen gebracht.»
Die Enge der Schweiz
Jeden Abend und manche Nacht habe er hinter den Büchern gesessen und gelernt. Jaeggi holte auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach, studierte Soziologie in Bern und Berlin und begann eine Laufbahn als Wissenschaftler.
«In der Soziologie habe ich mich zu Hause gefühlt», sagt Jaeggi. «Wer Ende der 60er-Jahre politisch dachte und sich für Politik interessierte, der ging in die Soziologie.»
Weniger Gefallen fand der Autodidakt an der ausgeprägten Hierarchie, die damals das Universitätsleben beherrschte. «Mitsprache oder gar Mitbestimmung der Studenten waren kein Thema», sagt Jaeggi. «In Bern haben die Studenten sogar noch die Einkäufe für die Ehefrauen der Professoren erledigt.»
Die Schweiz wurde ihm ein wenig zu eng, und als er 1966 einen Ruf als Professor an die neu gegründete Ruhr-Universität Bochum erhielt, musste er nicht lange überlegen. «Ich wollte raus und etwas von der Welt sehen», sagt Jaeggi, der damals mit der Psychologin Eva Jaeggi verheiratet war.
Einander ernst nehmen
In Bochum, im Strudel der 68er-Jahre, konnte Jaeggi auch seine Vorstellungen von einem gleichberechtigten Miteinander zwischen Lehrenden und Studierenden verwirklichen. «Für mich hiess Unterrichten, die Studenten am Lehrplan zu beteiligen und ihre Fragen ernst zu nehmen.»
Der Soziologe verfasste in den 60er- und 70er-Jahren viel beachtete Werke, darunter ein Buch zum Vietnamkrieg und die Analyse «Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik» – beide haben die Studentenbewegung massgeblich beeinflusst.
1972 wechselte Jaeggi an die Freie Universität nach Berlin. Unter anderem engagierte er sich für die Gleichstellung von Mann und Frau und teilte seinen Lehrstuhl von 1984 an mit einer Kollegin.
Leben für die Kunst
Parallel zu seiner wissenschaftlichen Karriere schrieb Jaeggi auch Romane, Essays und Gedichte. 1981 gewann er den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt; 1986 war er als Schriftsteller Gastdozent für Literatur an der New York University; zuletzt erschien 2009 der Roman «Wie wir».
Auch die bildende Kunst nahm ab Mitte der 80er-Jahre einen zunehmend grösseren Platz in Jaeggis Leben ein. Er brachte sich das Schweissen und Arbeiten mit Holz bei und begann, als Maler und Bildhauer, Aktions- und Videokünstler aufzutreten.
1992 verabschiedete sich Jaeggi aus dem universitären Leben und widmete sich fortan ausschliesslich der Kunst.
In Berlin und Mexiko-City zu Hause
Berlin, wo Jaeggis Tochter und sein Enkel leben, ist bis heute Lebensmittelpunkt – ebenso wie Mexiko-City, wo er seit über zehn Jahren einen Wohnsitz hat.
«Ich wohne mal hier, mal drüben, je nach Projekt halt», sagt er. Es hört sich nicht so an, als würde ihn das Pendeln zwischen den Kontinenten anstrengen. Im Gegenteil: Urs Jaeggi hat noch viel vor.
Einzelausstellungen der letzten 10 Jahre:
2010 La Hospitalidad, la Casa, La Obra, Installationen, Casa abandonada, México D.F (Video)
2009 Auf Papier und Anderes Rittergallery, Klagenfurt,
2008 Una Trayetoria sin concesiones (Presentation), Laboratorio Arte Alameda, México D.F.
2006 – 2007 Warum Jeremias Gotthelf nie nach Berlin kam Galerie Marianne Grob, Berlin (Video)
2006 El silencio del desierto Museo de Historia de Tlalpan, México D.F
2005 Assault 13 x Berlin, Performances, Berlin (Video)
2004 – 2005 More about pedestrians and shoes. Genf
2004 Mirada Viajera. Museo Naticonal de los Ferrocarrilles Mexicanos. Mexico DF (Video)
2004 Treppen. Fliegen. Köpfen. Worten. Sehen und Denken 22. Akademie der Künste. Berlin (Video)
2002 Ikarus. 91102Installationen, Galerie im Körnerpark, Berlin
2002 Das Heisse und das Kalte, Performance. Kurhotel Linz (Video)
2001 Bildinstallation. Galerie Marianne Grob, Berlin
2001 Standorte Worttafeln auf fünf Plätzen, Solothurn.
Wie wir: Huber, Frauenfeld, 2009
Durcheinandergesellschaft: Huber, Frauenfeld, 2008
Weder noch Etwas: Ritter, Klagenfurt, 2008
Brandeis: Rotbuch Verlag, 2001
Lange Jahre Stille als Geräusch: Wewerka, Berlin, 1999 (Lyrik und Zeichnungen)
Soulthorn: Amman Verlag, Zürich, 1990
Rimpler: Amman Verlag, Zürich, 1987.
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