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Kein Frühling nach dem harten Winter in Russland

Anti-Putin-Demonstration: Russische Sicherheitskräfte machen sich lustig über die Manifestanten. © Marina Razbezhkina Studio

Ein Star, ein laut-starker Eröffnungsfilm und eine schonungslose Dokumentation über den russischen Winter 2011/12, als Bürger die Präsidentschaft Putins verhindern wollten: Das 65. Filmfestival Locarno ist seit Mittwoch eröffnet.

Der Leopard hält die Stadt am oberen Ende des Lago Maggiore für die kommenden Tage in Atem: Die gelb-schwarz gemusterte Raubkatze liegt in praktisch jedem Schaufenster auf dem Sprung und faucht fast von jeder Hausmauer.

Charlotte Rampling begegnete der Gefahr auf leisen Pfoten mit viel britischer Coolness, als Direktor Olivier Père an ihrer Seite am Mittwochabend auf der Piazza Grande das Festival eröffnete. Dabei zeichnete der künstlerische Leiter die britische Star-Schauspielern mit einem Excellence Award aus.

Auf der Piazza Grande startete Locarno actiongeladen: «The Sweeney» des Briten Nick Love über die gleichnamige Eliteeinheit der Polizeitruppe Scotland Yard, in einer Weltpremiere gezeigt, war nichts für empfindliche Ohren und Gemüter.

Für die Medienvertreter ging es aber schon zuvor los, nämlich mit einer Visionierung von «Winter, Go Away!». Das Werk, realisiert von zehn jungen Absolventen der renommierten Dokumentarfilm-Akademie von Marina Razbezhkina in Moskau, nimmt in Locarno am Wettbewerb Cinéastes du Présent teil.

Mit der Handkamera folgten die jungen Regisseurinnen und Regisseure im vergangenen Winter protestierenden Bürgern durch die eisigen Strassen St. Peterburgs. Ihr Film dokumentiert den gescheiterten Aufstand, mit dem die russische  Opposition die neuerliche Präsidentschaft Wladimir Putins verhindern wollte.

Die Eröffnungsszene zeigt eine Flasche Vodka, mit der eine Runde Gläser gefüllt werden. Zwei Arbeiter, die zwischen alten Weisen aus der Muppet Show sitzen, lassen in einer nostalgischen Schwärmerei die grosse, alte Sowjetunion aufleben. Es folgen Bilder von Demonstrationen, Menschenketten, festgehalten wird die Nervosität jener, die, getarnt durch Masken, Plakate an Wände kleben, gezeigt wird die Verschlagenheit von Geheimagenten und die Taktik der Eliteeinheiten der Polizei.

Auf dem Höhepunkt von «Winter, Go Away!» fordert ein junger Schriftsteller mit wilder Frisur Freiheit, indem er Verse von Puschkin zitiert. Die Menge skandiert Slogans wie «Putin hau ab!», «Putin Dieb!» und «Die Macht den Millionen, nicht den Millionären!»

Blumige Worte und kruder Zynismus

Die Revolutionäre ohne Barrikaden, Gewehre und Granaten sind aber weit davon entfernt, sich darauf zu einigen, wer denn anstelle des verhassten Putin die Geschicke Russlands führen sollte. Auch das zeigt der Film.

Er zeigt auch, wie sehr Russen die Diskussion lieben, die sie bisweilen bis zu epischen Streitereien treiben. Dennoch verlaufen sie in einigermassen geordneten Bahnen, man hört einander zu, auch wenn man nicht gleicher Meinung ist. Solche Szenen dokumentieren nicht nur den hohen Grad an Bürgersinn der Unzufriedenen, sondern auch das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein und die Kenntnisse der Gesetze.

Als eine Art roter Faden blitzt dazwischen immer wieder der Galgenhumor der Menschen auf der Strasse hervor. «Eine Katze hat zwei Junge. Um sie nicht zu verwechseln, tauft sie das eine ‹Plüschtier› und ertränkt das andere», erzählt eine Frau. Sie will damit aber nicht eine fröhliche Runde unterhalten, sondern die angespannte Atmosphäre in einem Wahlkampf-Komitee auflockern.

«Er ist vielleicht auf der Toilette…»

«Ich wähle Putin, weil er gewinnen wird», sagt ein Schüler in einer Diskussion in der Klasse resigniert. Obwohl der Sieg Putins schon zum Vornherein feststand, kam es zu Wahlbetrug. Auch diesen zeigen die Macherinnen und Macher von «Winter, Go Away!». Ein Car fährt «Touristen» von einem Wahllokal zum nächsten. Als Beobachter deren Wahlausweise sehen wollen, behändigt der Chef des Wahllokals die Papiere und verschwindet. «Vielleicht ist er auf die Toilette», sagt ein Sicherheitsbeamter mit scheinheiliger Miene, als der Verantwortliche nach einer Stunde immer noch nicht wieder aufgetaucht ist…

Das Lachen vergeht einem aber schnell. Kaum ist der Sieg des Favoriten verkündet, muss sich die Revolution unter den Schlägen der Polizei beugen.

Festgehalten ist dies im Verteidigungskampf einer kleinen Gruppe von Demonstranten, die von einem Heer von Bereitschaftspolizisten umgeben sind.

Die Lage ist aussichtslos, die Vertreter der Staatsmacht werfen sich mit unerbittlicher Gewalt auf das Häufchen, bis alle auf dem Asphalt liegen.

«Ihr seht wie Russen aus, aber ihr schlagt zu wie ein tschetschenisches Kommando», ruft ihnen ein Passant zu. Der Winter ist vorbei, aber der Frühling hat in Russland noch nicht begonnen.

Regie: Anton Seregin , Sofia Radkevich , Alexey Zhiryakov , Denis Klebleev , Askold Kurov , Elena Khoreva , Anna Moiseenko , Madina Mustafina , Dmitry Kusabov , Nadezhda Leonteva.

Russland 2012, 79 Minuten.

Locarno zählt zu den zehn wichtigsten der rund 300 Filmfestivals der Welt, und das seit 65 Jahren.

Im Programm des Festivals 2012 figurieren 294 Filme aus 48 Ländern. In den diversen Wettbewerben laufen 101 Werke.

Im letzten Jahr verzeichnete das Festival knapp 160’000 Besucher. Die Vorführungen auf der Piazza Grande zog knapp 62’000 Filmfreunde an, gut 97’800 strömten in die Kinosäle.

3000 Teilnehmer stammten aus der Filmbranche, während rund 1000 Medienleute aus Locarno berichteten.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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