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Kinderzeichnungen als Geschichtsbuch

Im Archiv der Stiftung Pestalozzianum befinden sich 50'000 Zeichnungen aus aller Welt. Stiftung Pestalozzianum

Mehr als 50‘000 Kinder- und Jugendzeichnungen lagern im Archiv der Stiftung Pestalozzianum in Zürich. Eine Kunsthistorikerin ordnet und analysiert die Zeichnungen, in denen sich der soziale und politische Wandel der Gesellschaft spiegelt. Auch Zeichnungen des jungen Friedrich Dürrenmatt wurden in diesem Archiv entdeckt.

Anna Lehninger bewegt sich mit unglaublicher Sicherheit in diesen Kellerräumen im Zürcher Randquartier Oerlikon. Sie läuft die wackeligen Stufen hinauf, öffnet Schachteln und Kartons. Sie blättert Mappen durch und kehrt schliesslich mit einigen Blättern zurück. Die promovierte Kunsthistorikerin mustert die Zeichnungen. Häufig ist ihr das Erstaunen ins Gesicht geschrieben.

In diesem Moment schaut sie eine Collage an, ein typisches Patchwork mit Ausschnitten aus Hochglanzzeitschriften und Modekatalogen, wie sie in den Zeiten des Wirtschaftsbooms in den Schweizer Haushaltungen in Mode waren.  Die Collagen sind Zeitzeugen, so wie alle 50‘000 Kinder- und Jugendzeichnungen, die im Archiv der Stiftung Pestalozzianum lagern.

Zeichnungen des jungen Dürrenmatt

Die 33-jährige Kunsthistorikerin, die seit 10 Jahren in Zürich studiert, lebt und arbeitet, hat in den letzten drei Jahren viele Aha-Erlebnisse gehabt.

Etwa am Tag, als sie zufällig die Zeichnungen des jungen Friedrich Dürrenmatt entdeckte. Also die Kinderzeichnungen des berühmten Schriftstellers, der es mit Werken wie «Der Besuch der alten Dame» oder «Die Physiker» zu Weltruhm brachte.

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Es handelt sich um sechs Zeichnungen, die Dürrenmatt mit Bleistiften, Buntstiften oder Tinte angefertigt hatte. Sie spiegeln sein frühes Interesse für die Malerei, für Geschichte und epische Helden. Die Zeichnungen aus dem Jahr 1934 zeigen beispielsweise mutige Personen wie die Indianer in Amerika oder Adrian von Bubenberg, der 1476 als Kommandant von Murten gegen die Burgunder kämpfte.

«Eigentlich suchte ich eine andere Zeichnung von Dürrenmatt, die in einem Pestalozzi-Kalender erschienen war. Darin hatte er eine legendäre Schlacht der Eidgenossen gezeichnet. Diese Zeichnung habe ich bis heute nicht gefunden. Und ich fürchte, dass sie sich gar nicht mehr im Bestand befindet», sagt Anna Lehninger.

Wie sind die Werke Dürrenmatts ins Archiv gekommen? Der 13-jährige «Fritz Dürrenmatt» – so unterzeichnete er auf der Rückseite – schickte seine Zeichnungen anlässlich des jährlich stattfindenden Wettbewerbs des Pestalozzi-Kalenders ein. Und dies tat er im Falle der sechs erhaltenen Zeichnungen bestimmt mit grossen Emotionen.

«Denn Dürrenmatt hatte bereits zuvor an einem Wettbewerb teilgenommen und den ersten Preis gewonnen – eine Taschenuhr. Doch als er sie auspackte, liess er sie fallen. Und sie war sofort kaputt. Wahrscheinlich hat er dann sechs Zeichnungen eingesandt, um wieder eine Uhr zu gewinnen. Doch die Jury fand beim zweiten Mal nur eine lobende Erwähnung», erzählt Lehninger.

Das Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung im Besitz der Stiftung Pestalozzianum Zürich ist eine der umfangreichsten Sammlungen von Kinderzeichnungen in Europa. Es zählt zirka 50‘000 Werke.

1932 wurde das Archiv als Internationales Institut für das Studium der Jugendzeichnung (IIJ) in Zürich gegründet.

Der erste Leiter des Instituts, der Kunsterzieher Jakob Weidmann (1897−1975), war der Reformbewegung des «Neuen Zeichnens» verpflichtet. Diese strebte eine Erneuerung des Zeichenunterrichts an der Schule an, welcher bis dahin den Kindern wenig gestalterischen Freiraum gestattet hatte.

Zu diesem Zweck unterhielt Weidmann Kontakte mit Lehrern aus anderen Ländern wie Japan, Schweden oder Indien. Er legte eine Sammlung für das Studium von Schülerzeichnungen an, die bis in die 1960er-Jahre in internationalen Ausstellungen präsentiert und ständig erweitert wurde.

Dazu kamen später Zeichnungen aus dem Pestalozzi-Kalenderwettbewerb (22‘000 Zeichnungen). Weitere 14‘000 Zeichnungen stammen aus Privatbeständen.  

Von den insgesamt 50‘000 Zeichnungen sind bisher nur 400 digitalisiert. Die Stiftung Pestalozzianum hofft, dass sie die Inventarisierung und Erfassung der Werke fortsetzen kann. Die Digitalisierung der Werke ist ein Hauptprojekt der Stiftung.

Seit August 2012 analysiert Anna Lehninger, die Kunstgeschichte studiert hat und Mitarbeiterin des Instituts für Populäre Kulturen an der Universität Zürich ist, die Kinder- und Jugendzeichnungen im Hinblick auf ihre anthropologische und kulturelle Bedeutung. Die Sammlung steht auch anderen Forschern offen.

Weitere prominente Namen

Die Zeichnungen von Dürrenmatt sind nicht die einzigen Schätze im Archiv. Anna Lehninger hat beispielsweise Frühwerke des Bündners Alois Carigiet entdeckt. Er war Maler, Zeichner, Lithograf und Kinderbuchautor und wurde als Illustrator von «Schellenursli» landesweit bekannt. Auf einem vergilbten Papier findet sich beispielsweise das Porträt seines Bruders.

Dann gibt es das mit Bleistift gezeichnete Porträt des 13-jährigen Eduard Einstein, Sohn von Albert Einstein, oder ein Werk des bekannten Tessiner Grafikers Celestino Piatti. Oder das Bild von Globi, dem sprechenden Papagei, das der spätere Bundesrat Kaspar Villiger gezeichnet hat. Oder auch die Flucht von Hugo Koblet bei einem Velorennen, die der spätere Schriftsteller und Kabarettist Franz Hohler auf einem Stück Papier festgehalten hatte.    

Doch das Archiv erstaunt nicht allein wegen der Zeichnungen von Kindern, die irgendwann berühmt geworden sind, sondern vor allem wegen der Reichhaltigkeit und Vielfältigkeit der Sammlung. Die 50‘000 Zeichnungen stammen aus zirka 25 Ländern. Sie wurden im Rahmen des Schulunterrichts oder eines Wettbewerbs angefertigt. Die Sammlung der Stiftung Pestalozzianum gehört neben Wien, Prag, Mannheim und Lausanne zu den wichtigsten Sammlungen Europas.

Wenn man die Zeichnungen durchblättert, tritt man in gewisser Weise eine Zeitreise an. Der Betrachter kann die Veränderungen in der Gesellschaft, wichtige Ereignisse der Vergangenheit, aber auch die Entwicklung der Didaktik verfolgen. «Es gibt genug Stoff, um jahrzehntelang zu forschen; es ist äusserst interessant zu sehen, wie Kinder ihre Umgebung wahrgenommen haben», sagt Lehninger.

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Ein Spiegel der Zeiten

Eine Vielzahl historischer Ereignisse kennzeichnet das 20. Jahrhundert. Aber einige haben die jungen Künstler besonders animiert. Dazu gehören ganz sicher die Landesverteidigung, der Zweite Weltkrieg (mit Darstellungen von Verwandten in Uniform oder Waffen), Sportwettkämpfe und die erste Mondlandung.

Die Zeichnungen zeigen aber auch soziale Veränderungen auf, etwa den Wandel der Familie. «Bis in die 1960er-Jahre sieht man nur die klassischen Familienrollen: Ab den 1970er-Jahren erscheint aber plötzlich ein Vater, der in der Küche tätig ist oder dem Baby die Flasche gibt, während die Mamma Auto fährt», sagt Lehninger.

Die Zeichnungen spiegeln ein buntes Jahrhundert. Und Anna Lehninger kann in den Werken aus Strichen und Farben erkennen, wie Kinder und Jugendliche die Welt gesehen haben.

Das Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung stellt einen repräsentativen Ausschnitt von Kindermalerei des letzten Jahrhunderts dar. Die Sammlung beinhaltet Zeichnungen von Kindern aus allen Kontinenten. Allerdings sind nicht alle Länder in gleicher Quantität vertreten.

«Die reichhaltigen Bestände aus Staaten wie Schweden oder Japan erlauben es, Unterrichtsmethoden einzelner Lehrer oder Schulen im Detail zu verstehen. Man kann auch didaktische Methoden verschiedener Länder vergleichen. Beispielsweise waren die Unterrichtsziele in der Tschechoslowakei und in Zürich in den 1930er-Jahren recht ähnlich, während man in Zeichnungen aus München schon den Stempel des Nationalsozialismus erkennt», sagt Anna Lehninger.

Vor allem der erste Direktor des Internationalen Instituts für das Studium der Jugendzeichnung (IIJ), Jakob Weidmann, widmete sich vergleichenden Studien der Kunsterziehung. Weidmann wollte einen Beitrag zum Frieden auf der Welt leisten, indem er den Austausch der Zeichnungen von Kindern unterschiedlicher Hautfarbe und Kulturen förderte.

Heute findet dieser internationale Austausch nur noch sehr selten statt. Doch die Verantwortlichen der Stiftung Pestalozzianum wollen die internationalen Kontakte wieder beleben, um Schweizer Kinderzeichnungen in ausländischen Archiven zu finden und den Einfluss der internationalen Ausstellungen des damaligen Instituts IIJ zu erkunden.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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