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Kirchenglocken: Überlieferte Emotionen

"Kern" und "falsche Glocke": Traditionelle Techniken im Glockenbau. swissinfo.ch

Weihnachten ohne Glockengeläute wäre nicht Weihnachten. In Aarau jedenfalls werden seit dem 14. Jahrhundert Glocken gegossen.

swissinfo hat die Giesserei Rüetschi AG besucht – die einzige Schweizer Firma, welche diese traditionelle Industrie pflegt.

Dieses Jahr läutet «Barbara» ihre 636. Weihnachen ein. «Barbara», das ist eine zwei Tonnen schwere Glocke in der Kathedrale von Freiburg, in der auf Lateinisch eingraviert ist: «Gegossen im Jahr des Herrn 1376, im Monat Oktober, von Meister Walter Reber in Aarau.»

Zu dieser Zeit habe es in ganz Europa Bronzegiessereien gegeben, sagt René Spielmann, Direktor der Rüetschi AG, gegenüber swissinfo. «Das Glockenhandwerk war ursprünglich in Irland beheimatet und kam erst im 8. bis 9. Jahrhundert nach Kontinentaleuropa.»

In Aarau werden seit Generationen Glocken gegossen, von Familie zu Familie, ohne Unterbruch. In der Schweiz gibt es zwar noch andere Giessereien, doch Kirchenglocken werden nur noch bei Rüetschi in Aarau produziert.

Die Konkurrenz kommt für das Aargauer Unternehmen aus Frankreich, Deutschland und Italien. Dennoch kann die Rüetschi AG ihre Produkte exportieren, und das seit 100 Jahren. Glocken «made in Aarau» läuten in Europa, Lateinamerika, in den USA, in Ghana oder auf den Philippinen.

Still gestandene Zeit

Wenn man durch die Werkstätte der Rüetschi AG geht, könnte man meinen, die Zeit sei still gestanden. Vielleicht nicht gerade im Mittelalter, aber zumindest Anfang 19. Jahrhundert.

Die grossen Glocken werden immer noch gleich hergestellt wie früher: Bau des «Kerns» aus Ziegelstein mit Ton übergossen; dann kommt die «falsche Glocke», auch «verlorene Glocke» genannt, ebenfalls aus Ton; und schliesslich noch das «Gehäuse» oder der «Mantel», auch aus Ton.

Nach Fertigstellung dieser drei Etappen wird die «falsche Glocke» entfernt. Der dadurch entstandene Leerraum wird einer Metall-Legierung (79% Kupfer und 21% Zinn) gefüllt. Der «Kern» dient zur Formung des Innenteils, das «Gehäuse» zur Formung des Aussenteils der Glocke.

Die moderne Technologie kommt in dieser Phase auch zum Zuge, obschon sie nicht sichtbar ist. Und zwar bei der Vorbereitung der Glocken-Formate, die per Computer gesteuert werden kann. Und zur Präzision des Glockenklangs, der aus verschiedensten Harmonien besteht, werden Frequenzmesser verwendet.

Vor allem Musik

Das wichtigste bei der Kirchenglocke ist die Klangqualität. Da muss sich die Herstellerfirma nach den Wünschen der Kunden oder nach den Begebenheiten des Ortes richten, wo die Glocke hinkommt.

Der Klang einer Glocke wird nach ihrer Umgebung bestimmt: die anderen Glocken im gleichen Kirchturm, die Glocken der anderen Kirchen am gleichen Ort. Eine neue Glocke muss sich harmonisch ins Klanggefüge einer ganzen Stadt einordnen.

Und eine Glocke ist…keine Glocke, wie René Spielmann betont: «Eine Glocke ist ein Musikinstrument. Da ist einmal die Glocke selbst, dann ihr Resonanzkörper, der Kirchturm nämlich, und das Joch, an dem die Glocke befestigt ist. Das alles gehört zum Instrument, das alles zusammen macht die Klangqualität aus.»

All diese Aspekte muss die Arbeit der Aargauer Firma berücksichtigen. Deshalb gibt es bei Rüetschi auch verschiedene Berufskategorien, vom Ingenieur bis zum Schmied.

Überlieferte Signale

Die Kirchenglocke ist nicht nur ein religiöses, sondern auch ein sozialpolitisches Symbol. Als Alarmglocke kündigt sie Katastrophen an. Am 1. August läutet sie den Nationalfeiertag ein. Auch bei anderen Ereignissen ertönt sie.

Die Glocke knüpft also an ihre ursprüngliche Funktion als Kommunikationsmittel an. Ihre Geschichte reicht viel weiter zurück als das Christentum. Im Bronze-Zeitalter beispielsweise verbreiteten «akustische Platten», eine Art Klangkörper, Signale.

«Im Arbeitsalltag ist die Glocke ein Produkt wie jedes andere auch, eigentlich belanglos. Aber die Tatsache, dass eine Glocke viel länger lebt als ihr Hersteller, gibt dem Produkt eine wirklich emotionale Dimension», so Spielmann.

Diese «emotionale Dimension» spürt nicht nur der Glockengiesser. Fast alle Menschen sind irgendwie ergriffen vom Klang der Glocken. René Spielmann sieht drei Gründe dafür: «Erstens hat die Glocke ein grosses Klangvolumen, eine starke physische Energie. Zweitens beeinflusst ihre Musikalität die Gefühle der Menschen. Und dann begleiten einem die Glocken ein ganzes Leben lang.»

Tatsächlich prägen sich Kirchenglocken in das Leben fast eines jeden Menschen ein, ob er gläubig ist oder nicht. Glocken betonen Schlüsselmomente im Leben: Hochzeit oder Begräbnis. Und man hört sie – nicht so stark, aber andauernd – während des Tages, der Woche und des Jahres.

swissinfo, Bernard Léchot, Aarau
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

Die Firma Rüetschi AG in Aarau ist die einzige Glockengiesserei in der Schweiz, welche noch Kirchenglocken giesst. Seit mehr als 600 Jahren werden in Aarau Kirchenglocken gegossen.

Die Giesserei stellt mit traditionellen Techniken jährlich zwischen 20 und 30 Kirchenglocken her, welche in 30 Länder exportiert werden.

Die schwerste Glocke wiegt über achteinhalb Tonnen. Sie hängt in der katholischen Kirche von Gossau.

Bis 1869 produzierte die Giesserei in Aarau Kirchenglocken und Kanonen. Heute ist das Unternehmen auch im Bereich Kunst- und Industriegiesserei tätig.

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