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Kirchenglocken verzaubern und nerven

Beschwerden wegen Lärm könnten der Tradition des Kirchengeläuts den Garaus machen. Keystone

Eine kulturelle Institution oder Lärmbelästigung? Die Schweizer Kirchenglocken läuten zur Zeitangabe, rufen die Menschen zur Predigt – und stören einige ihrer Nachbarn gewaltig. Dies führt zu Diskussionen, ob sie zum Schweigen gebracht werden sollen. Einige Kirchen haben sich dem öffentlichen Druck gebeugt und vermindern die Lautstärke oder reduzieren die Zeit, während jener sie läuten lassen.

Ende August, an einem Freitagabend in Bern, läutet es aus jedem Kirchenturm. Der Anlass ist das Kirchenfest BernExterner Link. In einer Kakophonie von Tönen lassen die Glocken ihr Echo während 15 Minuten über die gesamte Altstadt klingen – und ziehen viele Zuhörerinnen und Zuhörer von ausserhalb der Schweizer Bundesstadt an.

«Für mich ist das kein Lärm, sondern Musik», sagt Dominik Däppen, ein Glöckner aus der Region Thunersee. «Die Kirchenglocken haben verschiedene Klänge.» Doch er kann auch jene verstehen, die weniger enthusiastisch sind.

Däppen schlägt deshalb einige Möglichkeiten vor, den wahrgenommenen Lärm abzudämpfen. «Man könnte sie etwas leiser machen, sei es durch Isolation wie hier am Berner Münster, sei es durch Veränderungen an der Mechanik oder am Klöppel.»

In Deutschland «sind viele Kirchtürme mit Holz- oder Metall-Täfelung isoliert, um einen Teil des Schalls abzudämpfen», sagt Matthias Walter, Präsident der Gilde der Carillonneure und Campanologen der SchweizExterner Link. Die Schweizer Glocken seien nicht unbedingt lauter als anderswo in Europa, doch die typische Turmarchitektur – relativ offen – könnte dazu führen.

Ein anderer entscheidender Unterschied ist die Frequenz, in der sie geläutet werden. «In Frankreich werden die Glocken normalerweise einmal pro Stunde geläutet, in der Schweiz jede Viertelstunde, und die volle Stunde mit einer anderen Glocke», so Walter. In Italien sei es von Region zu Region unterschiedlich. «Im Norden läuten sie etwas häufiger und haben offenere Türme.»

Gesundheitsrisiko?

Viermal pro Stunde, 24 Stunden am Tag, das ist zu viel für «LärmsensibleExterner Link«, eine Interessengruppe, die sich für eine leisere Schweiz einsetzt. «Lärm von Kirchenglocken hindert Menschen daran, ein- und durchzuschlafen. Das führt zu Stress, der die Leute krank machen kann», sagt Samuel Büechi, Sprecher der Vereinigung.

Sind Kirchenglocken also ein Gesundheitsrisiko? Gut möglich, heisst es im Bundesamt für Umwelt (Bafu), das eine Abteilung LärmExterner Link betreibt. «Es gibt gute Gründe, zu glauben, dass Lärm zu Stressreaktionen führt, und Stress führt zu langfristiger Gesundheits-Beeinträchtigung», sagt Mark Brink, Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bafu.

Die Behörden können zwar durch Verkehr und Industrie verursachten Lärm regulieren, doch den Kirchen können sie nicht befehlen, was sie tun sollen. «Es gibt keine klaren Lärm-Grenzwerte für nächtliches Kirchengeläut. Dieser Konflikt muss auf Gemeindeebene gelöst werden», so Brink.

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«Doch falls möglich sollte das Läuten der Kirchenglocken während der Nacht vermieden werden. Je weniger Lärm, desto besser; das ist immer unsere Position.» Ein guter Kompromiss wäre laut Brink der Verzicht auf Kirchengeläut zwischen 10 Uhr abends und 6 oder 7 Uhr morgens.

Etwas, auf was sich viele Kirchen bereits beschränken: Laut einer Umfrage des Zürcher Tages Anzeigers lassen 15 von 34 protestantischen und 16 von 24 katholischen Kirchen in der Stadt Zürich ihre Glocken nicht mehr während der Nacht läuten.

So entschied beispielsweise dieses Jahr die evangelisch-reformierte Kirche im Stadtteil Höngg, ihre Glocken während der Nacht schweigen zu lassen. Die Gemeindemitglieder anerkannten diesen Entscheid, nachdem sich Anwohner beschwert hatten. Bereits früher hatte die katholische Quartierkirche ihr Nachtgeläut eingestellt.

«Ich bin ziemlich überzeugt, dass die Tradition des Kirchengeläuts – zumindest während der Nacht – in fünf bis zehn Jahren zu Ende gehen wird», sagt Brink, der zufälligerweise immer an Orten gelebt hat, wo er nächtliches Kirchengeläut hörte. «Kirchgemeinden sind der Meinung, es sei politisch gescheiter, dies freiwillig zu tun, als zu warten, bis sich jemand beschwert.»

Ding Dong

Doch wenn sich Menschen über Kirchenglocken aufregen, warum wohnen sie dann in der Nähe einer Kirche? «Es gibt nicht genügend ruhigen und bezahlbaren Lebensraum», sagt Büechi. «Es ist sehr schwierig, eine ruhige Wohnung zu finden, besonders wenn man kein Auto besitzt und nicht weit entfernt vom Stadtzentrum wohnen will.»

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Viele würden nicht einmal an Kirchengeläut denken, wenn sie eine Wohnung suchten, glaubt Walter. Nach dem Einzug seien sie oft überrascht, wenn sie in der Nacht ein Geläut hörten.

Laut Walter gibt es zwei typische Reaktionen darauf: «Entweder sagen sie, ‹es weckt mich, aber ich versuche, damit umzugehen›. Dann gewöhnen sie sich nach ein paar Wochen daran, und es stört sie nicht mehr.» Andere hingegen würden denken, sie müssten sofort etwas dagegen unternehmen – und das führe oft zu unerfreulichen Diskussionen oder Klagen. «Dann stört es die Person natürlich jedes Mal, wenn sie es hört, weil es sie an den Prozess erinnert.»

Brink gibt aber auch zu bedenken, man dürfe nicht vergessen, dass Kirchenglocken für viele Menschen einen positiven psychologischen Effekt hätten: «Sie fühlen sich besser, daheim, dass Gott über sie wacht oder was auch immer – für diese Menschen haben sie also eine psychologische Bedeutung. Und das unterscheidet das Geläut von anderen Arten des Lärms.»

Gerichtsentscheide: Tradition ist wichig

Vier Fälle von Kirchengeläut sind bis ans Schweizerische Bundesgericht weitergezogen worden. In jedem Fall entschieden die Richter zugunsten der Glocken.

Im Fall der evangelisch-reformierten Kirche der Zürcher Gemeinde Gossau wies das Bundesgericht die Beschwerde eines Anwohners ab mit der Begründung, es bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Tradition.

Der Kläger, der sich neben der Kirche niedergelassen hatte – in der Meinung, diese würde nur sonntags läuten –, zog das Urteil 2010 weiter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, Frankreich. Dieses erklärte den Fall im Dezember 2013 für unzulässig.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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