Kleine Festivals – die Dorffeste von heute
For Noise, B-Sides, Cholererock, Natural Sound, Woodrock, Krach am Bach, Lumnezia oder Hors Tribu: Namen von Bands? Nein, sondern kleinere und mehr oder weniger erfolgreiche Festivals, wie es sie jeden Sommer in der Schweiz zu Hunderten gibt.
Im Schatten der Grossen lebt es sich oft vorzüglich. Dies gilt auch für Open-Air-Festivals.
Die Schweiz zählt rund 300 Konzertanlässe unter freiem Himmel.
Aber selbst wenn sich jemand von Festival zu Festival beamen könnte: Der Besuch sämtlicher Events ist schlicht unmöglich. Denn in der Hauptsaison, die von Mitte Juni bis Mitte August dauert, finden jedes Wochenende mehr als 30 Festivals gleichzeitig statt.
Das Paléo in Nyon, Frauenfeld, St. Gallen, Gurtenfestival und Gampel sind die grossen «Klassiker». Dahinter folgen Rock Oz’Arènes in Avenches und Out in the Green Interlaken. Hier zählen die Veranstalter das Publikum immer noch in Zehntausender-Schritten.
Dahinter blüht eine Vielzahl kleinerer Anlässe, deren Namen dem grossen Festival-Publikum unbekannt sind. Oft werden sie von idealistischen Musikbegeisterten organisiert, die keine kommerziellen Interessen haben. So gibt es tatsächlich sogar Festivals, die gratis sind.
Idealisten am Werk
Vielmehr wollen die idealistischen Veranstalter einem bestimmten Musikstil eine Plattform bieten, oder jungen Bands als Sprungbrett für eine Karriere dienen. Die paar Hundert oder wenigen Tausend Besucher sollen die Auftritte in einer intimen – oder authentischeren, wie Puristen sagen würden –, Atmosphäre geniessen können.
«Heute will praktisch jedes Dorf sein eigenes Festival organisieren. Das Wir-Gefühl, das früher am Unterhaltungsabend des Turnvereins geschaffen wurde, entsteht heute am regionalen Open Air», sagt der Musikjournalist und Festival-Kenner Jodok Kobelt gegenüber swissinfo.ch.
Willy Dezelu, Programmchef beim Westschweizer Musiksender Couleur 3, begründet die Explosion der Anzahl kleinerer Festivals auch mit der Qualität der Schweizer Musikszene. «Bands aus der Schweiz sind hoch im Kurs, es ist deshalb nicht mehr altmodisch, Schweizer Gruppen ins Programm zu nehmen», so Dezelu.
Zudem vermöge Musik auch heute noch Träume wach zu rufen. «Die Organisatoren arbeiten freiwillig und unentgeltlich. Sie bauen die Bühne auf, betreuen die Musiker und kochen für sie. Diese Einstellung trägt auch dazu bei, dass es immer mehr Festivals gibt», sagt der Radiomann.
Die Musiker selbst müssten vermehrt live spielen, weil die Verkäufe der CDs eingebrochen seien. «Alle, ob grosse oder kleine Stars, sind im Sommer auf Tournee», sagt Willy Dezelu.
Zurück zu den Wurzeln
Als Folge bevölkert eine riesige Zahl von Musikerinnen und Musikern sowie DJs aus allen erdenklichen Stilarten die Bühnen.
Die Affichen der grossen Festivals sind meist dem Mainstream verpflichtet. Viele kleine dagegen engagieren in erster Linie Bands aus der Umgebung oder aus dem Ausland, Hauptsache: nicht zu teuer.
Andere positionieren sich klar als Spartenfestival, das die Fans einer ganz bestimmten Stilart ansprechen soll. Etwa Elektro für die Raver, Metal für die ganz Hartgesottenen, Reggae, Blues und Soul für die Alternativen und Friedlichen.
Unter dem Strich gilt aber für die kleinen Open Airs dasselbe wie für die grossen: Gute Stimmung muss sein.
«Die Atmosphäre macht es aus: Sie ist festlich, und man geniesst sie gemeinsam. Die Kodizes sind nicht dieselben, wie wenn man sich im Supermarkt oder am Postschalter trifft», sagt Willy Dezelu von Couleur 3.
Das Publikum wechsle fliegend von einer zur anderen Festival-Kategorie. «Nachdem sie am Paléo Weltstars gefeiert haben, suchen viele in der Woche danach nach einer cooleren, authentischeren Atmosphäre, wo sie die Musiker, die auf einer ganz kleinen Bühne spielen, aus nächster Nähe bewundern können», sagt Dezelu.
Balanceakt auf schmalem Grat
Für die Veranstalter bedeutet ein kleines Festival ein steter Tanz am finanziellen Abgrund. Nicht nur die Budgets sind viel kleiner als diejenigen der Grossen, sondern auch die Reserven. «Regen genügt, und die Veranstalter sind mit mehreren zehntausend Franken im Minus. Dazu müssen sie noch das Gelände wieder herrichten», sagt Jodok Kobelt.
Aufgrund des engen Budgets geht an kleinen Festivals nichts ohne Freiwillige, die unentgeltlich arbeiten. Und wie bei den Grossen sind Sponsoren – Ausnahmen bestätigen die Regel – unverzichtbar. «Hier heissen sie nicht mehr Coca Cola, sondern Elmer Citro und ‹Landi› statt Migros. Jeder noch so kleine Beitrag ist willkommen, um die Fixkosten zu senken», erklärt Kobelt.
Aufgrund des fehlenden finanziellen Polsters verschwinden viele kleine Festivals ebenso schnell, wie sie gekommen sind. Vom Aussterben bedroht sind sie laut Willy Dezelu aber nicht. «Die Sommerparty zieht immer, sei es beim Grillieren oder an einem Festival, wo man gute Musik hört und andere Menschen trifft.»
Der Radio-Profi erinnert daran, dass auch Veranstalter kleiner Festivals ihre Hausaufgaben machen, sprich: das Publikum ernst nehmen müssen. «Eine Bühne mit einer schlechten Lautsprecheranlage oder eine einzige Toilette für 500 Personen liegt nicht drin.»
Laut Dezelu liegt der Schlüssel zu erfolgreichen Festivals in einem Mix von einem guten programmlichen Angebot mit anderen Faktoren wie etwa dem Empfang der Besucher sowie Überraschungsmomenten.
Genau hier liegt laut Willy Dezelu die Zukunft der Festivals. «Organisatoren müssen kreativ sein und zusätzliche Happenings veranstalten, beispielsweise Foto-Ausstellungen. Sie müssen Wert auf ein gutes und vielseitiges Verpflegungsangebot legen und das ganze Festivalgelände muss attraktiv und sauber sein.»
Vielleicht brauche es auch Attraktionen wie ein Planschbecken vor der Bühne, um das Publikum bei Laune zu halten. «Denn zwischen den Konzerten wollen die Besucher nicht vor einer Bühne herumstehen, auf der sich nichts tut.»
Hier eine kleine Auswahl, die für das breite Angebot von «Mini-Festivals» steht (umfangreiche Festival-Übersicht siehe unter «Links»):
Uhuru (Freiheit auf Swahili): 29. Juli bis 4. August auf dem Weissenstein oberhalb Solothurn. Stilrichtung: Worldmusic. Besucher: ökologisch und solidarisch ausgerichtet. In Tanz- und Musik-Workshops können sie selber zum Künstler werden.
Zamba Loca: 24 und 25. August. 2010 gegründet, um die Aargauer Gemeinde Wohlen mit heissen Latino-Rhythmen zu füllen. In zwei Tagen gibt es 16 Stunden «verrückten Samba» live sowie 16 Stunden Elektro-Mixes von DJs. Besucher können auch selber an den Plattentellern wirbeln.
Irish Openair Toggenburg: 7. und 8. September in den St. Galler Alpen. Zwei Tage ruhige und wilde Atmosphäre gefüllt mit Klängen von Dudelsack, Flöte, Geige und Gitarre. Und natürlich mit viel Guinness-Bier.
Le Chant du Gros: 6. bis 8. September, auf einer malerischen Jurawiese bei Le Noirmont. Kleines Festival, das gross wurde. U.a. sind schon Deep Purple, Johnny Clegg oder Renaud aufgetreten.
Metal Assault: 28. und 29. September in Lausanne (nicht im Freien, sondern in einer Halle). Für die Freunde von schwarzem Leder, Haarmähnen, grossen Bierbechern, und natürlich allen Spielarten von hartem Metal wie Trash, Doom, Gothic, Black, Death, Power, Speed etc.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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