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«Kleine Produktionen müssen sich gegenseitig helfen»

Léa Pool bei den Dreharbeiten zu ihrem neusten Film "Maman est chez le coiffeur". Journées de Soleure

Die kanadisch-schweizerische Regisseurin Léa Pool, der an den 44. Solothurner Filmtagen die Retrospektive gewidmet war, hat für ihren neuen Film "Maman est chez le coiffeur" den "Prix du Public" gewonnen.

Sie interessiere sich für Personen am Rande des Abgrunds, sagt Léa Pool. In ihren Filmen stimmt sie immer wieder intime Töne an.

Auch in ihrem neuesten Film «Maman est chez le coiffeur» geht es um die menschlichen Abgründe: Der Film, der in Kanada spielt, erzählt von einer Familie, die auseinanderbricht, von der verlorenen Kindheit und dem Ende der 1960-er Jahre.

An den Solothurner Filmtagen kam die Premiere von «Maman est chez le coiffeur» sehr gut an: Am Samstag wurde der Film mit dem «Prix du Public» geehrt.

Mit ihrer differenzierten Sicht hebt sich Léa Pool von den amerikanischen Grossproduktionen ab, die das anglophone Kanada überschwemmen. Dies stehe für die kulturelle Ausnahme Quebecs, so Léa Pool. Der Kultur Quebecs gehe es laut eigenen Angaben so gut wie noch nie.

swissinfo: Wie in der Schweiz wird auch das Filmschaffen in Quebec, das ebenfalls verschiedene Sprachen beheimatet, weitgehend subventioniert. Wie geht es der Filmbranche?

Léa Pool: Zurzeit geht es dem Quebecer Film ziemlich gut. Die frankophonen Filme haben an den Festivals viel Beachtung gefunden. In den Top-Ten der letzten Filmhitparade kanadischer Filme sind sechs von zehn Filmen französisch. Was das Filmschaffen angeht, ist die Situation in Quebec heute solider, lebendiger und dynamischer als im anglophonen Teil von Kanada.

Es ist zwar sehr schwierig mit kommerziellen Produktionen und Promotionskampagnen nach amerikanischem Vorbild zu konkurrenzieren, doch die Menschen in Quebec lieben ihr eigenes Kino. Auch wenn – wie in der Schweiz – Komödien oder Filme leichter Kost eher gewinnbringend sind, gibt es immer auch ein Publikum für die schwierigeren, humanistischeren Filme.

In den 25 Jahren seit ich Filme mache, hat sich meine Einstellung nicht geändert: Wir sind zwar Teil der Filmindustrie, doch wir müssen weiterhin künstlerisch präsent sein und Risiken eingehen. Es ist jedes Mal eine Herausforderung – doch es lohnt sich.

swissinfo: Funktioniert das Ko-Produktionssystem im frankophonen Raum?

L.P.: Wir versuchen, es zum Laufen zu bringen. Es ist jedoch eine Lösung. Ich habe diesbezüglich mit meinen zwei Nationalitäten einen Vorteil.

Häufig fehlen für eine Produktion 25-30% des Filmbudgets. In diesem Fall müssen die kleinen Produktionen einander unter die Arme greifen. Es ist normal, dass wenn 20% des Budgets aus Quebec stammen, auch 20% der Filmarbeit an Quebec gehen sollten. Doch manchmal fehlt es bei diesem System etwas an Flexibilität. Ein Film wie «Paris, Texas» des deutschen Regisseurs Wim Wenders, der im Ausland gedreht wurde, hat seinen Wert. Man kann die Geschichten nicht nach den Ko-Produktionsregeln erfinden.

swissinfo: Laufen in Quebec im Kino auch Schweizer Filme?

L.P.: Leider werden in Quebec nicht viele Schweizer Filme gezeigt. Das Schweizer Kino war hier zu Zeiten von Tanner, Goretta und Murer ein Begriff, doch die neue Generationen von Schweizer Cineasten kennt man hier nicht mehr.

In der Vergangenheit war das Autorenkino viel präsenter, es gab viele Studiokinos und kleine Vertreiber. Sogar auf dem Land wurden Filme von Ingmar Bergman gezeigt. Das ist heute unvorstellbar.

Mit dem amerikanischen Kino, das heute zwischen 78% und 90% des weltweiten Markts abdeckt, bleibt für das nationale Kino und das Autorenkino nicht mehr viel Platz. Schon gar nicht für ausländische Produktionen. Jedes Land versucht seine eigenen Produktion zu verteidigen, das ist normal. Mit den Veränderungen in der Filmdistribution, dem Digitalkino und dem Internet werden die Stärkeren noch mehr Raum erobern.

swissinfo: An welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit?

L.P.: Ich beende die Filmarbeiten von «Une belle mort», eine Ko-Produktion mit Luxemburg. Weiter möchte ich einen Film zum Leben von Jung drehen. Da Jung in Basel geboren ist und in Zürich gearbeitet hat, würde sich die Schweiz als Drehort anerbieten.

Doch die Realisierung ist nicht einfach, denn es ist ein ambitiöses Projekt. Es ist praktisch unmöglich, das Geld für einen Film zusammenzubringen, der zwischen 8 bis 10 Mio. Franken kostet. Man findet für ein Filmprojekt höchstens Subventionen zwischen 4 bis 6 Mio. Franken. Bei einer 20-Millionen-Produktion mit amerikanischen Stars sieht es wieder anders aus.

swissinfo: Was für einen Rat würden Sie einem jungen Regisseur mit auf den Weg geben?

L.P.: Ich weiss zwar nicht, ob es heute noch möglich ist, doch man muss seinen eigenen Arbeitsstil finden. Wartet man von Beginn weg darauf, dass die Filme vollständig finanziert und produziert werden, kann man lange warten.

Auch eine überzeugende Visitenkarte – etwa auf Video oder Kurzfilm – ist wichtig. Man muss sich dafür etwas einfaches und persönliches einfallen lassen.

Meinen Beobachtungen zufolge waren es nicht unbedingt die Cineasten, die von Anfang an viel Geld für die Produktion erhielten, die Karriere machten.

In diesem Fall besteht die Gefahr, dass man sich mit einem erfahrenen Filmteam findet, das die ganze Arbeit selbst macht. Ist man mehr auf sich selbst angewiesen, ist das Resultat vielleicht am Anfang etwas holprig, aber es wird aussagekräfiger und repräsentiver für das Talent.

swissinfo, Carole Wälti, Solothurn
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Léa Pool ist in 1950 in Genf geboren. Ihr Vater ist ein polnischer Jude, ihre Mutter eine Italo-Schweizerin.

Im Jahr 1975 ging Léa Pool nach Kanada, um das Filmhandwerk zu erlernen. Sie studierte in Montreal an der «Université du Québec».

Seither lebt sie in Montreal, wo sie als Filmemacherin arbeitet.

Die Regisseurin von zahlreichen Spiel- und Dok-Filmen hat zahlreiche Preise erhalten.

2000 gewann sie den Schweizer Filmpreis für «Emporte-moi».

2009 wurde sie an den 44. Solothurner Filmtagen für ihren Film «Maman est chez le coiffeur» mit dem «Prix du Public» geehrt.

Dieses Jahr wurde neben dem «Prix du Public» (20’000 Fr.) erstmals der «Prix de Soleure» (60’000 Fr.) vergeben. Der neue Preis, der an ein Werk verliehen wird, das durch seine humanistische Grundhaltung überzeugt, ging an «No More Smoke Signals» von Fanny Bräunings.

Der Schweizer Filmpreis wird 2009 erstmals nicht mehr im Rahmen der Solothurner Filmtage übergeben. Die Preis-Verleihung geht am 7. März als TV-Gala im Kultur- und Kongresszentrum Luzern über die Bühne.

1978: Laurent Lamerre, portier
1980: Strass Café
1984: La Femme de l’hôtel (Die Frau im Hotel)
1986: Anne Trister
1988: À corps perdu (Besinnungslos)
1990: Hotel Chronicles
1991: Montréal vu par… (Montreal Sextet)
1991: La Demoiselle sauvage
1992: Rispondetemi
1994: Mouvements du désir (Im Zug der Leidenschaft)
1998: Gabrielle Roy
1999: Emporte-moi (Nimm mich mit)
2001: Lost and Delirious
2004: The Blue Butterfly (Das Geheimnis des blauen Schmetterlings)
2008: Maman est chez le coiffeur

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