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Knackt Nemo den ESC-Code für die Schweiz?

Nemo in Aktion in Stockholm am 14. April
Nemo in Aktion in Stockholm am 14. April. Keystone

Die Schweiz zählt beim diesjährigen Eurovision Song Contest zu den Favoritinnen. Das hat das Land, das an ESC-Enttäuschungen gewöhnt ist, dazu gebracht, das Undenkbare zu denken – ein Sieg würde aber einige schwierige Fragen aufwerfen.

“‘La Suisse nul points, Switzerland no points‘ – kaum ein anderes Ereignis hat unseren Nationalstolz so verletzt wie der Eurovision Song Contest”, beklagte das konservative Magazin Weltwoche am Montag, drei Tage bevor Nemo im schwedischen Malmö auf die Bühne trat.

“Bevor uns Luca Hänni von unserer ewigen Qual [2019: Platz vier] befreit hat, mussten wir Jahr für Jahr feststellen, was der Rest Europas von uns hält: fast nichts.”

Es stimmt, dass die Schweiz öfter als jedes andere Land ohne Punkte nach Hause gegangen ist (ein Rekord, den sie sich mit Österreich und Norwegen teilt). Aber diese Zeiten sind vorbei, wenn man den Schweizer Medien glaubt.

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Wie stehen die Chancen der Schweiz, dieses Jahr zu gewinnen?

Kommt der Wettbewerb nach Hause? Kehrt der Eurovision Song Contest 68 Jahre nach dem Sieg der Schweizer Sängerin Lys Assia beim ersten Wettbewerb in Lugano in die Schweiz zurück?

Ja, Céline Dion gewann 1988 für die Schweiz, aber wie die Weltwoche in ihrem eher lieblosen ArtikelExterner Link feststellt, “kommt das Stimmwunder aus Kanada”.

Britische Buchmacher:innen rechnen in diesem Jahr mit einem Zweikampf zwischen Nemo aus der Schweiz und Baby Lasagna aus Kroatien, es könnte turbulent werden.

Nemos Beitrag The Code, eine temperamentvolle Mischung aus Pop, Rap, Drum’n’Bass und Oper, war sogar klarer Favorit, bis Baby Lasagna ein spätes Comeback hinlegte.

The Code ist nicht einfach live zu performen. Aber wenn Nemo es schafft, unkonventionell zu sein, war das noch nie eine schlechte Sache beim Eurovision Song Contest, einem “kitschigen Popfest mit geringer Qualität und hohem Unterhaltungswert”, so The Economist.

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Wenn Nemo nicht gewinnt, liegt das nicht an der mangelnden Unterstützung vor Ort: Die begeisterten Fans seiner Heimatstadt Biel in der Nordwestschweiz können das Drama bei mehreren Public Viewings verfolgen.

Das Halbfinale am Donnerstag und das Finale am Samstag werden auch in verschiedenen Bars und im Kino Rex übertragen.

“Ich bin total beeindruckt von Nemos Talent”, sagte Jerry Heil, der für die Ukraine antritt, gegenüber der Schweizer Zeitung BlickExterner Link. “Nemos Song spricht die Generationen an und hat eine Botschaft, die widerspiegelt, was viele junge Menschen durchmachen. Es ist mehr als nur ein Lied. Es ist eine gemeinsame Erfahrung.”

“Nemo ist super süss, hat eine warme Energie und ich liebe seinen Stil”, sagte Aiko, die die Tschechische Republik vertritt und dem Schweizer Act eine gute Chance einräumt. “Nemo hat einen tollen Song, eine charmante Persönlichkeit und ich bin gespannt, was sich das Team für die Produktion der Show ausgedacht hat.”

Israels Teilnehmerin Eden Golan, die Nemo noch nie getroffen hat, sagte: “Ich liebe den Schweizer Song, es ist ein tolles Lied, und Nemo kann wirklich gut singen.”

Wer ist Nemo?

Nemo Mettler ist 24-jährig und hat sich im November als nicht-binär geoutet. Nemo identifiziert sich nicht mit einem bestimmten Geschlecht und hat darum gebeten, mit den Pronomen “they/them” oder einfach als Nemo angesprochen zu werden.

“Diese Geschichte ist meine Wahrheit / Ich bin durch die Hölle und zurück gegangen / Um mich selbst auf dem richtigen Weg zu finden / Ich habe den Code gebrochen, whoa-oh-oh“  ‒ der Text von The Code scheint sicherlich teilweise autobiografisch zu sein. Nemo erklärteExterner Link, dass “meine Wahrheit darin besteht, mich mit mir selbst wohlzufühlen und zu erkennen, dass ich nicht-binär bin. […] Das Gefühl, für mich selbst einstehen zu können und ich selbst zu sein, wo immer ich hingehe, ist der grösste Teil meiner Wahrheit.”

Nemo ist keineswegs der:die erste LGBTQ-Teilnehmer:in beim Eurovision Song Contest, welche:r schon seit Jahren eine grosse Fangemeinde in der queeren Community hat.

Zu den früheren Gewinner:innen gehören die Transgender-Sängerin Dana International im Jahr 1998 und die Drag-Künstlerin Conchita Wurst im Jahr 2014. “Sie hat für immer neu definiert, was Eurovision für mich bedeutet”, sagt Nemo über Wurst.
“Ihr Auftritt war fesselnd, wunderschön und so bedeutungsvoll.”

Während die Weltwoche bemängelte, dass nicht-binär zu sein “ein Merkmal zu sein scheint, das in der Parallelwelt dieser musikalischen Freakshow weit mehr Punkte bringt als jede Stimmkraft oder jedes Rhythmusgefühl der Welt”, war die Unterstützung für Nemo in den Schweizer Medien insgesamt sehr positiv.

Das “Ausnahmetalent” (Tages-Anzeiger) genoss zwei Titelfeatures in der Schweizer Illustrierten, und selbst die nüchterne Neue Zürcher Zeitung, die sich, wie die Weltwoche schreibt, “sonst nur am Rande mit diesen niederen Aspekten der Unterhaltungsindustrie beschäftigt”, machte den Eurovision Song Contest zum Hauptthema ihres Kulturteils.

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Falls die Schweiz gewinnt, wo würde der Wettbewerb im nächsten Jahr stattfinden?

Ohne vorgreifen zu wollen, gehört es zu den Regeln des ESC, dass das Siegerland im folgenden Jahr die Veranstaltung ausrichtet (und sich automatisch qualifiziert). Welche Schweizer Stadt und welcher Austragungsort wäre das also?

Der Wettbewerb hat einen weiten Weg zurückgelegt, seit das Teatro Kursaal in Lugano 1956 Gastgeber des Wettbewerbs war. An der Premiere nahmen damals sieben Länder teil. Im Jahr 1989, dem Jahr nach dem Sieg von Céline Dion, fand der Wettbewerb im Palais de Beaulieu in Lausanne statt, in dem 1600 Zuschauer Platz fanden, um die Künstler aus 22 Ländern zu sehen.

Aber ein Kasino aus dem 19. Jahrhundert und ein Kongresszentrum aus dem Jahr 1921 sind nicht mehr zeitgemäss. Die Malmö Arena zum Beispiel fasst bei Konzerten mehr als 15’000 Personen.

Nemo möchte, dass der Wettbewerb 2025 in Biel/Bienne stattfindet. Doch würde sich der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG), die Muttergesellschaft von SWI swissinfo.ch, für die Tissot-Arena mit einem Fassungsvermögen von 6’500 Personen entscheiden?

Man soll nie nie sagen, aber die Favoriten sind das Hallenstadion in Zürich (13’000), die St. Jakobshalle in Basel (12’400), Arena von Genf (9’500) oder die Bernexpo in Bern (eine neue Halle mit 9’000 Plätzen wird im nächsten Frühjahr eröffnet).

Nemo mit Krawatte
“Es ist eine unglaubliche Ehre, die Schweiz am ESC repräsentieren zu dürfen”, sagt Nemo. KEYSTONE / ENNIO LEANZA

Wer würde dafür bezahlen?

Der Eurovision Song Contest, der von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) in Genf organisiert wird, ist nicht billig. Es wird gemunkelt, dass Irland, das in den 1990er-Jahren viermal in fünf Jahren gewann, so verzweifelt war, dass es absichtlich einen Blindgänger nominiert, um nicht noch einmal zu gewinnen.

Die Non-Profit-Veranstaltung wird grösstenteils durch Beiträge der teilnehmenden Fernsehsender (die so genannte Teilnahmegebühr) finanziert. Sie belaufen sich auf 6,2 Millionen Euro (6 Millionen Schweizer Franken), wie die Eurovision 2021 erklärteExterner Link.

Hinzu kommt ein Beitrag der gastgebenden Rundfunkanstalt, der je nach den örtlichen Gegebenheiten und den verfügbaren Mitteln in der Regel zwischen 10 und 20 Millionen Euro beträgt, sowie ein Beitrag der Gastgeberstadt.

Aber es geht nicht nur um die Ausgaben. Es gibt auch kommerzielle Einnahmen aus Sponsorenverträgen, Ticketverkäufen, Fernsehübertragungen und Fanartikeln, und natürlich wird auch der Tourismus angekurbelt: Malmö erwartet rund 100’000 Besucher:innen aus rund 90 Ländern.

Und was bedeutet das für die SRG? Böse Zungen behaupteten, dem Chefbuchhalter der SRG stehe schon der Schweiss auf der Stirn, schreibt die Weltwoche. “Ein Sieg wäre mit der ‘Halbierungsinitiative’ unvereinbar.“

Diese will die Medienkonzessionsgebühr von 335 auf 200 Franken pro Haushalt senken. Die SRG hat erklärt, sie rechne mit einem massiven Stellenabbau, falls die Stimmbevölkerung die Initiative annimmt. Noch steht für den Urnengang kein Datum fest.

Letztes Jahr sahen mehr als 160 Millionen Menschen in aller Welt die Show in Liverpool. Die Stimmen kamen aus 144 Ländern. Für die politische Debatte in der Schweiz und das lauernde Ungemach dürften sich die wenigsten im Millionenpublikum interessieren, wenn Nemo am Donnerstag im zweiten Halbfinale – und dann vielleicht am Samstag im Finale auftritt.

Editiert von Reto Gysi von Wartburg/dos, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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