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Koloniale Raubkunst: Auch Verdachtsfälle sollen Nigeria gehören

Prinz mit Entourage macht Selfie
Prinz Aghatise Erediauwa, nigerianische Historiker und Beamte nach der feierlichen Übergabe des Berichts. Thomas Kern/swissinfo.ch

Laut einem Bericht ist die Hälfte aller Benin-Bronzen in Schweizer Museen zweifelhafter Herkunft. Sie sollen bald wieder in Nigerias Besitz übergehen.

«Es war ein überwältigendes Gefühl, ich sah meine Geschichte in diesen Objekten – zum ersten Mal.» Enibokun Uzebu-Imarhiagbe ist Historikerin aus Nigeria. Im Museum Rietberg begegnete sie einem Kopf aus Bronze, der einst gegossen wurde zu Ehren des Oba.

So nennt man den König im Königreich Benin. «Meine Familie geht auf diesen Oba zurück, er war auch der Grossvater von Oba Ovonramwen, der das Königreich Benin bis zur britischen Militäraktion von 1897 regierte.» Der Kopf wurde vermutlich damals wie Tauende weitere Bronzen geraubt. 

Uzebu-Imarhiagbe ist Teil des Teams der «Benin Initiative Schweiz» (BIS).Externer Link Dieses untersuchte, ob die Benin-Bronzen in Schweizer Museen Raubkunst sind. 

Historikerin auf Podium
Historikerin Enibokun Uzebu-Imarhiagbe vertrat auf dem Podium die Ansicht, dass die Benin-Bronzen als rituelle Gegenstände einen klaren Platz in Nigeria haben, während andere hofften, dass die Schweizer Museen weiter als «Hüter» der Objekte walten dürfen. Thomas Kern/swissinfo.ch

Das Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt Museen seit 2016 finanziell in der Erforschung der Herkunft von Kunstwerken – zu nationalsozialistischer Raubkunst aber auch zu Objekten aus kolonialen Zusammenhängen.

2021 formierte sich die Benin Initiative, um der Herkunft der Benin-Bronzen in der Schweiz nachzugehen. Museen für aussereuropäische Kunst und Kultur aus Basel, Bern, Burgdorf, Genf, Neuchatel, St. Gallen und Zürich schlossen sich zu einer Kooperation zusammen. 

Die Wege der Objekte waren oft sehr verworren. Die Forscher:innen der BIS wühlten sich durch Firmenarchive und Familiengeschichten. Manchmal ging man einzelnen Likes im Netz nach, um an Grossmütter heranzukommen, die wussten, wem ein Objekt mal gehört hatte.  

Die BIS reagierte mit ihrer Arbeit nicht auf konkrete Rückgabeforderungen Nigerias, sondern sah es als Aufgabe der Museen, mit Nigeria in einen Dialog zu treten.

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Dabei ging es zunächst darum, Objekte vor 1897 von Replikaten zu unterscheiden, erklärt Uzebu-Imarhiagbe. Denn: «Als die Briten merkten, wie gut sich die geraubten Bronzen verkauften, liessen sie Kopien anfertigen.»

Doch den Kopien fehlten entscheidende Gebrauchsspuren. Sie wurden bearbeitet, um gebraucht auszusehen. «Der Oba trug beispielsweise Glocken an seinem Gürtel, man sieht die Spuren, die sein Körper hinterlassen hat. Sie unterscheiden sich deutlich von jenen, die absichtlich beigefügt wurden.» 

Uzebu-Imarhiagbe ging der Geschichte auch in den Archiven in Nigeria nach, doch dort fand sie wenig – die Geschichte der Benin Bronzen wurde eher mündlich überliefert.

Deswegen sprach sie mit örtlichen Palasthistorikern, Chiefs, Lokalhistoriker:innen, Schreinhütern und vor allem auch Angehörigen der Bronzegiessergilde: «Diese Gilde goss für hunderte von Jahren Bronze im Auftrag des Oba. Der Beruf wird in der Familie weitergegeben.»  

Bei diesen Gesprächen ging es ihr nicht nur um die Erhebung von Forschungsdaten. «In europäischer Provenienzforschung wird das afrikanische Daheim der Objekte oft aussen vor gelassen, die Produzenten der Dinge kommen genauso wenig wie ihre Nutzer:innen zu Wort.» 

Was meint sie mit den Nutzer:innen der Objekte? «Für den Westen sind diese Dinge einfach Kunst. Doch sie wurden erst durch ihre Geschichte zu Kunst – das ändert nichts daran, dass diese Dinge noch rituellen Wert haben.» 

Kollaboration als Aufschiebemanöver? 

«Kollaboration» und «Dialog» sind Wörter, die in der Diskussion um Raubkunst durchaus auch skeptisch betrachtet werden: Dialog sei oft nicht mehr als ein Filibuster, ein Aufschiebungs-Manöver, meint Dan Hicks, Kurator des Pitt Rivers Museums in Oxford, in seinem zentralen Buch über die Debatte um die Benin-Bronzen.

Kooperation verhindere nur zu oft, dass das Unausweichliche geschehe: Die Rückgabe der geraubten Kunst an die eigentlichen Besitzer:innen in den ehemaligen Kolonien.

Trotz einiger Gegenbeispiele – so übergab Deutschland letztes Jahr etliche Bronzen an Nigeria – war nicht völlig klar, was vom «Benin Forum 2023» im Museum Rietberg zu erwarten war. Angekündigt war lediglich die Übergabe eines Berichts zur Herkunft der Benin-Bronzen in Schweizer Museen.  

Szenen vom Rietberg
Herkunftsforscherinnen auf der Bühne: – Esther Tisa, Alice Hertzog, Enibokun Uzebu-Imarhiagbe und Michaela Oberhofer. Vorne rechts im Bild: Prinz Aghatise Erediauwa. Thomas Kern/swissinfo.ch

Ende Januar 2023 reiste eine Delegation aus Nigeria an: Beamte der Nationalen Kommission für Museen und Denkmäler NCCM, Historiker:innen, ein Bronzegiesser, dessen Familie seit sechs Generationen in der Gilde ist, ein Künstler und als Vertreter des Ewuare II kam Prinz Aghatise Erediauwa.

Die Delegation und die Vertreter:innen der Schweizer Museen assen gemeinsam Zürcher Geschnetzeltes und Egusi-Suppe – das nigerianische Nationalgericht mit zermahlenen Wassermelonenkernen, erzählte Michaela Oberhofer von der BIS dem Publikum. Aber man habe auch hart über jeden Satz der Deklaration diskutiert, die am «Benin Forum» vor Publikum verkündet werden sollte. 

In diesem Fall wurden Forderungen nach Rückgabe mit der Kooperation nicht aufgeschoben, sondern eher provoziert: Der erste Punkt auf der Deklaration, macht bereits klar, dass es sich nicht um einen reinen Höflichkeitsbesuch handelte. 

«Die Besitzrechte an den Gegenständen, die 1897 geraubt wurden oder geraubt worden sein könnten, sollen an den ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden.» 

Die Beweislast liegt bei den Museen

Das heisst: Auch Objekte in Schweizer Museen, bei denen nicht gänzlich geklärt werden konnte, ob sie legal erworben wurden, sollen Nigeria zurückgegeben werden.

Dass auch Verdachtsfälle als unrechtmässig erworben gelten, zeigt, dass der Umgang des Kunstmuseums Bern mit Kunstwerken zweifelhafter Herkunft Schule macht: Die Museen nehmen die Beweislast auf sich – und restituieren im Zweifel – auch das ist ein Novum.

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Ein Beispiel für ein solches Objekt unter Verdacht ist ein Elfenbeinzahn aus dem Museum Rietberg, der dem Museum 1993 verkauft wurde. Der Elfenbeinzahn wurde in den frühen 1960ern bei Sotheby’s versteigert – zuvor gehörte er einem Vorstandsmitglied der Elder Dempster Shipping Company.

Eines der Schiffe der Firma lieferte 1897 tonnenweise Güter für die militärische Operation in Benin. Es ist anzunehmen, dass es nicht ganz leer zurückfuhr und der Elfenbeinzahn damit nach England gelangte. Beweisen lässt es sich zwar nicht endgültig, doch weil die Beweislast wegfällt, spielt dies auch keine Rolle.

Bei anderen Beispielen ist der Fall klarer – so wurden zehn Objekte im Museum der Kulturen Basel ursprünglich von William D. Webster verkauft, einem einschlägigen Händler, der Benin-Bronzen bei Soldaten in ganz England zusammengekauft hatte. 

Namenszettel
Eine Delegation aus Nigeria besuchte das Museum Rietberg um über die Zukunft der Benin-Bronzen zu diskutieren. Thomas Kern/swissinfo.ch

Das Benin-Forum im Museum Rietberg war ein eher akademisch gehaltener Anlass. Eine Rückgabe-Zeremonie fehlte – dafür ist es doch noch zu früh.

Bei der Übergabe des Berichts wurde es dennoch plötzlich feierlich, die Vertreter des Palasts von Benin City stellten sich auf der Bühne auf, Osaisonor Godfrey Obogie, Forscher für Benin-Studies begann einen Lobpreis auf den Oba aufzusingen: «Du bist ein Jäger, der den Elefanten ohne Waffe erlegen kann» – und der Bericht wurde feierlich übergeben.

Im Anschluss an die Konferenz herrschte grosse Fröhlichkeit, am opulenten Steh-Apero wurde irgendwann auch getanzt, nachdem die Schweizer Gastgeber:innen der gesamten nigerianischen Delegation mit leichten Verneigungen Schweizer Praliné überreicht haben.

Natürlich ist das Diplomatie, das Pflegen einer strategischen Freundschaft, die auch von der Hoffnung genährt ist, möglichst viele Kunstwerke dennoch als Leihgaben behalten zu können – im Rahmen einer Partnerschaft auf Augenhöhe. 

Wie Tijani von der NCCM meinte: «Es geht nicht nur um die Überschreibung der Eigentumsrechte, sondern darum, wie wir künftig gemeinsam kommunizieren. Wir wollen kein Vakuum hinterlassen – wir wollen als Partner kooperieren.» 

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