Kongresse statt Sonnenkuren
Der Monte Verità wurde 1900 als Ort einer lebens-reformerischen Kooperative entdeckt. Später wurde daraus eine bekannte Künstler-Kolonie. Heute ist der "Berg der Wahrheit" in Vergessenheit geraten. Eine Jubiläumstagung will Perspektiven entwickeln.
Im Jahr 1900 begann die sagenumwobene Geschichte des Monte Verità, dieses Hügels oberhalb Asconas (TI). Lebensreformer, Vertreter des dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus, gründeten die zuerst urkommunistische, später dann individualistische, vegetabilische Kooperative. Die Gründer waren Ida Hofmann, Pianistin und Frauenbefreierin, der Industriellensohn Henri Oedenkoven sowie die Brüder Karl und Arthur Gräser. Sie ernährten sich streng vegetarisch und trugen – wenn überhaupt – selbstgenähte Kleidung. Sie setzten sich für ein neues Leben im Einklang mit der Natur ein.
Keine Zukunft für die Naturheilanstalt
Aus der Kooperative entwickelte sich ein Sanatorium, «eine Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Erkenntnisse und erweiterten Bewusstseins, befruchtet vom Sonnenstrahl des Allwillens». Das Interesse am «neuen» Menschen war jedoch nicht so gross; die Naturheilanstalt litt bald unter finanziellen Schwierigkeiten. Die Gründer wanderten schliesslich nach Spanien und Brasilien aus und der Monte Verità wurde in einen Hotelbetrieb umgewandelt. 1926 erwarb Eduard Baron von der Heydt, Bankier von Kaiser Wilhlem II und Kunstsammler, den sagenumwobenen Hügel.
Nichtsdestotrotz wurde die Kolonie von den Medien viel beachtet und nicht wenige Künstler, Tänzerinnen und Schriftsteller besuchten den «Berg der Wahrheit». Der deutsche Anarchist Erich Mühsam war da, die Bohémienne und Schriftstellerin Franziska Gräfin zu Reventlow, Rudolf Laban und seine expressionistische Tanzclique mit Mary Wigman und Katja Wullf; Isadora Duncan besuchte den Monte Verità ebenso wie die Dadaisten Hugo Ball und Hans Arp oder die Bauhauskünstler Albers, Bayer, Gropius, Schawinsky und Schlemmer. Später, in den 30-er Jahren, kamen die Emigranten aus Deutschland: unter ihnen Erich Maria Remarque, Else Lasker-Schüler, Hermann Hesse.
Untergang des «Berges der Wahrheit»
Von der Heydt, dessen zweifelhafte Beziehungen zu den Nazis erst vor kurzem wieder zu reden gaben, vermachte nach seinem Tode 1964 den Monte Verità dem Kanton Tessin – mit der Auflage, aus dem «Berg der Wahrheit» einen Ort bedeutsamer kultureller und künstlerischer Anlässe zu machen.
Die Auflage des Testamentes wurde bis anhin nicht erfüllt. Zwar richtete der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann ein Museum ein, welches der Geschichte des Berges gewidmet ist, doch der Berg lebt nicht mehr. Die Eidgenössische Technische Hochschule hat sich dort eingenistet und hält Seminare ab. Kunstschaffende sind kaum anzutreffen. Touristen nur wenige.
Dies soll sich ändern. Die zum 100-jährigen Jubiläum veranstaltete Tagung (30.11. bis 3.12.) soll die Geschichte des Berges beleuchten und vor allem zu neuen Perspektiven führen. Denn das Überleben eines der für die soziale und künstlerische Bewegung des 20.Jahrhunderts faszinierendsten Orte ist in Frage gestellt.
Carole Gürtler
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