Kontroverse um Standard-Romantsch dauert an
Rumantsch Grischun (RG), die Standard-Version des Rätoromanischen, bleibt auch mehr als 20 Jahre nach seiner Einführung umstritten.
Die Frage spaltet die rätoromanische Gemeinschaft: Für die Befürworter hat Romantsch mit RG eine Zukunft, die Gegner befürchten das Aus für die Minderheiten-Sprache.
Traditionell werden im Kanton Graubünden, im Südosten der Schweiz, fünf verschiedene rätoromanische Idiome gesprochen: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader.
Dazu kommt Rumantsch Grischun, das 1982 eingeführt wurde – als gemeinsame, schriftliche Sprache für die rätoromanisch sprechende Gemeinde.
Die eidgenössischen und kantonalen Behörden nutzen Rumantsch Grischun im Verkehr mit Bürgern und Bürgerinnen. Der Kanton Graubünden veröffentlicht seit 2001 alle offiziellen Dokumente in Rumantsch Grischun.
Bis ins Jahr 2010 will Graubünden Rumantsch Grischun in allen romanischen Primarschulen einführen. Unter anderem hofft der Kanton, damit auch Kosten zu sparen, denn bisher werden die Schulmittel in den fünf traditionellen Idiomen herausgegeben.
Auch ein Teil der Medien, darunter das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen der Rätoromanischen Schweiz (RTR) und die Zeitung La Quotidiana, nutzen unterdessen Rumantsch Grischun.
Glaubwürdigkeit
Die Lia Rumantscha, die sich für die Erhaltung und Förderung der Minderheiten-Sprache einsetzt, war eine der treibenden Kräfte hinter der Entwicklung von Rumantsch Grischun.
Die Organisation mit Sitz in der Bündner Hauptstadt Chur erhoffte sich unter anderem, dass eine standardisierte Version der Sprache auch dazu beitragen könnte, die zergliederte romanische Identität zu festigen und Romantsch mehr Glaubwürdigkeit zu geben.
«Es ist manchmal nicht einfach, wenn wir unterwegs sind, um die Interessen der romanische Bevölkerung zu vertreten und dann im (mehrheitlich) deutschsprachigen Teil des Landes darauf angesprochen werden, warum wir denn ein Buch in fünf Sprachen veröffentlichen wollen», sagt Andrea Rassel von der Lia Rumantscha gegenüber swissinfo.
Man hatte sich von der Einführung von Rumantsch Grischun auch erhofft, dass Romantsch in einer Zeit, in der immer weniger Leute die Sprache beherrschen, neuen Aufwind erhalten würde. Derzeit sprechen nur rund 0,5% der Schweizer Bevölkerung die Sprache.
Doch die Argumente der Befürworter stossen bei vielen Menschen auf taube Ohren, vor allem in den Regionen Graubündens, wo die Idiome Jahrhunderte überdauert haben.
Zu diesen Leuten gehört auch Annemieke Buob in Celerina im Oberengadin, wo das Idiom Puter gesprochen wird. Buob ist die Präsidentin einer Sektion der Uniun dals Grischs, die sich ebenfalls für die Förderung des Romanischen einsetzt.
Kunstsprache
«Romantsch ist etwas, das gewachsen ist und sich etabliert hat. Man kann dies nicht durch eine Sprache ersetzen, die künstlich geschaffen wurde», sagt Buob im Gespräch mit swissinfo.
Rumantsch Grischun könne auch nicht das Deutsche ersetzen, das viele der zweisprachigen Rätoromanen bei der Arbeit brauchen.
«Die Kantonsregierung und die Lia Rumantscha wollen uns das Rumantsch Grischun aufdrängen, vor allem als Schriftsprache. Im Engadin wollen wir das nicht. Viele Leute befürchten, dass sie damit ihre lokalen Idiome verlieren werden», unterstreicht Buob.
Viel werde davon abhängen, so Buob, ob RG in den Schulen eingeführt werde. Davon, ob sich die Kinder mit RG als einer «Sprache des Herzens» identifizieren könnten, statt als Sprache einer kleinen Elite.
Eltern befürchteten zudem eine Überforderung ihrer Kinder. «Die Kinder müssen schon Schweizerdeutsch und Hochdeutsch lernen. Wenn dann noch zwei Sorten Romantsch dazu kommen, ist das wirklich viel», sagt Buob.
Weg in die Zukunft
Die Befürworter von Rumantsch Grischun sind hingegen überzeugt, dass die Standard-Version der bedrohten Sprache einen Weg in die Zukunft weist. Vorwürfe, die Sprache sei zu künstlich, weisen sie zurück.
«Die Wörter existierten schon alle. Rumantsch Grischun ist eine Kombination, geschaffen aus Bestehendem, ähnlich wie es Luther für das Deutsche tat und Dante für das Italienische», sagt Bernard Cathomas, der Direktor von RTR und Verfechter von Rumantsch Grischun.
Die Einführung von Rumantsch Grischun, räumen jedoch auch Befürworter ein, sei nicht optimal verlaufen.
«Zuerst hatten Behördenvertreter erklärt, RG werde nur für eidgenössische Gesetzestexte und die Kommunikation mit der romanisch sprechenden Bevölkerung genutzt werden», sagt Andrea Rassel von der Lia Rumantscha.
«Mit der Einführung von Rumantsch Grischun in den Primarschulen, wenn die Kinder die neue Sprache nun lernen müssen, kommt das den Leuten natürlich viel näher», so Rassel weiter.
Im Idealfall könnte sich die Lage laut Rassel ähnlich wie in der Deutschschweiz entwickeln, wo Schweizerdeutsche Dialekte die Umgangssprache sind und Hochdeutsch (Schriftdeutsch) die Sprache, die an Schulen gelehrt wird.
«Leute schreiben anders, als sie sprechen. Und wenn die Menschen erst einmal realisieren, dass der Schritt vom Idiom zu RG nicht wirklich gross ist, dann, denke ich, werden wir viele Leute für das Projekt gewinnen können», hofft Rassel.
swissinfo, Isobel Leybold-Johnson in Chur and Celerina
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
RG wurde 1982 vom Zürcher Professor Heinrich Schmid entwickelt. Als Basis dienten drei Idiome: Sursilvan, Vallader and Surmiran.
Wenn immer möglich, wurde eine allen gemeinsame Form eines Wortes genutzt. Zum Beispiel beim Wort Frieden: Pasch.
In Fällen, wo das nicht ging, wurde manchmal auf ein kleineres Idiom wie Sutsilvan zurückgegriffen – gea (für Ja), oder sogar auf eine regionale Untervariante eines Idioms, wie im Fall von jau (ich), aus dem Jauer-Dialekt aus dem Val Müstair (Münstertal).
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