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Kreuzungspunkt der Menschheitsgeschichte

Ansichten aus dem Hinterland des Krieges © Daniel Schwartz/Pro Litteris

Der Schweizer Fotograf Daniel Schwartz zeigt im Zürcher Helmhaus seine Ansichten aus dem Hinterland der zentralasiatischen Kriege. Es sind Bilder aus der Tiefe der Zeit, die in der Gegenwart gemacht worden sind.

Die ausgestellten Bilder und Textarbeiten sind zwischen 1995 und 2007 in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und in Afghanistan entstanden.

Die Ausstellungsmacher haben für die Bilder von Daniel Schwartz schwerelose Räume geschaffen. Ihre Dimensionen – Boden, Decke und Wände – sind weiss.

Daniel Schwartz geht von einer überzeugenden Arbeitsthese aus: Zentralasien ist ein einzigartiger Überschichtungs- und Begegnungsraum der Zivilisationen und Kulturen der Menschheit. Dieser Raum gibt den Blick auf «geschichtliche Betriebsunfälle» der Gegenwart frei. In Zentralasien wird seit mehr als 3000 Jahren fast ununterbrochen Krieg geführt.

Bilder von Ost nach West und zurück

Auf seinen Feldzügen stiess Alexander der Grosse im 4. Jahrhundert vor Christus von Westen bis an die Tore von China vor. Von der Mongolei im Osten überrannten Dschingis Kahns Reiterhorden im Jahr 1241 die europäischen Schutzwälle. Sie rückten bis an die Stadtmauern von Wien vor. Die Spuren dieser Weltgeschichte hält Daniel Schwartz fotografisch und mit Textbildern aus verschiedenen Perspektiven fest.

Daniel Schwartz legt für uns den zentralasiatischen Überschichtungsraum mit Schlüsselbildern frei. Die fotographische Reise beginnt am Ende der chinesischen Mauer, welcher der Schweizer Fotograf vor 20 Jahren als erster Ausländer in ihrer gesamten Länge gefolgt ist. Die Reise endet in einem weiten Bogen am Kaspischen Meer, in Afghanistan und im Iran.

Die Bilder von Daniel Schwartz sprechen für sich selbst. Im staubtrockenen Ambiente einer usbekischen Durchgangsstrasse wirbt ein Multi für Nahrungsmittel mit einem Sandbild für wasserlöslichen Kaffee. An der chinesisch-kirgisischen Grenze erinnert das Reich der Mitte mit einem Sandrelief an seinen regionalen Macht- und Hegemonieanspruch.

Mit einer analogen Hasselblad

Daniel Schwartz ist kein Knipser, der unablässig mit dem Finger am Auslöser spielt. Dazu taugen seine fotografischen Werkzeuge nicht. Er fotografiert mit analogen Hasselblad-Grossbildkameras. Diese Kameras erlauben ihm aufgrund der optischen Anordnung des Suchers, die Menschen und Szenen anzuschauen, mit ihnen in Kontakt zu sein, wenn er sie abbildet.

Daniel Schwartz hat keine Eile. Er versucht so lange an einem Ort zu verweilen, bis er als Fotograf von den Protagonisten nicht mehr wahrgenommen wird. Diesem Anspruch kann er nicht immer gerecht werden. In Ulan Bator starrt ein von Zuhause ausgerissenes Kind aus der Kaverne einer Heisswasserleitung dem Schweizer Fotografen verängstigt in die Linse.

Erschütternd das Bild einer Kriegswitwe in Kabul. Die Frau ist vollständig unter den Stoffstrukturen der Burka eingehüllt, bettelt an einer Ausfallstrasse, weil sie gemäss islamischer Rechtsauffassung aus dem afghanischen Arbeitsalltag verbannt worden ist.

Die Grenzen des Ethnozentrismus

Daniel Schwartz stösst fotodokumentarisch von Zentralasien nach Europa vor, zeigt im Bild, dass die europäische Sicht der Dinge allein die Komplexität der monumentalen Geschichte der Region nicht erfassen kann.

Wir sehen vordergründig eine urwüchsige Landschaft in Turkmenistan, die sich bei genauerem Hinsehen als Sand-Korridor für ein transasiatisch-europäisches Glasfaserkabel enthüllt. In Usbekistan ragen auf den Fundamenten zerfallener buddhistischer Tempelruinen militärische Radarschirme in den Himmel.

Wohin der Betrachter in der Ausstellung im Zürcher Helmhaus auch schaut: Als Leitthema entpuppt sich, wie in Zentralasien die Gegenwart an Nomaden, Sesshaften und an den Verlierern vorbeirauscht.

Zurück bleiben die Geschichte, vom Sand zugeschüttete Strassen und Pisten, leere Kanister an einer Wasserstelle, ein gebückter Strassenwischer, der in Kaschmir auf seinem Wege eine Schotterpiste kehrt.

Bilder, die auch vom Text leben

Sagt ein Bild mehr als Tausend Worte? Daniel Schwartz scheint diesem Gemeinplatz zu misstrauen. Er dokumentiert seine Fotogeschichten mit monumentalen Begleitbüchern, mit Notizen und Notaten, welche den komplexen Strang von Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart verbinden.

Die Besucher der Ausstellung im Helmhaus bringen im Gästebuch ihre Eindrücke über die monumentale Schau von Daniel Schwartz auf den Punkt: «Wir sehen Blicke eines klugen Kopfes», «der Fotograf nimmt uns mit auf eine unendliche Reise». Die kürzeste Beschreibung der Ausstellung lautet: «Voll toll».

Erwin Dettling, Zürich, swissinfo.ch

Das Helmhaus Zürich zeigt zeitgenössische Kunst, hauptsächlich von Schweizer Künstlerinnen und Künstlern oder von Kunstschaffenden, die in der Schweiz leben.

Die Ausstellung «Travelling through the Eye of History. Ansichten aus dem Hinterland der Kriege» dauert noch bis am 14 Juni. Sie ist jeweils von Dienstag bis Sonntag von 10 – 18 Uhr geöffnet, am Donnerstag bis 20 Uhr. Montags geschlossen. Der Eintritt ist frei.

Daniel Schwartz (1955) verbringt seine Jugend in Olten und Günsberg, besucht die Kantonsschule in Solothurn und absolviert in Zürich die Fotoklasse der Schule für Gestaltung (1977-1980).

Er ist ein fotografischer Weltreisender, der auch schreibt und dokumentiert. Er arbeitet weltweit als Fotojournalist und Dokumentalist und ist seit 1997 Mitglied der Fotoagentur Lookat. Schwartz publiziert regelmässig in Magazinen, veröffentlicht Fotobücher und ist Mitarbeiter bei der Schweizer Kulturzeitschrift Du.

Die bis jetzt erschienenen Bücher von Daniel Schwartz
Die Grosse Mauer Chinas, Weingarten Verlag, 1991

Delta. The Perils, Profits and Politics of Water in South and Southeast Asia, 1997, Thames&Hudson Verlag,Neuauflage, 2004,

Schnee in Samarkand. Ein Reisebericht aus 3000 Jahren, Eichborn Verlag, 2008

Travelling Through the Eye of History, Thames&Hudson Verlag, 2009

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