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Kriegsfotografie zwischen Zorn und Mitgefühl

US-Kriegsfotograf James Nachtwey auf einer Patrouille im Zentrum Bagdads während dem Irak-Krieg im April 2003. Keystone

Seit 20 Jahren rüttelt der Kriegsfotograf James Nachtwey auf mit seinen Bildern von Kriegen, Katastrophen und menschlichem Leid. Der Amerikaner hat als Gastreferent auf der Zürcher Photo10 einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Das Auditorium der Maag Eventhall in der Zürcher Vorstadt war bis zum letzten Platz besetzt.

Im Bühnenraum waren nur ein weisses Notebook und eine monumentale Leinwand zu sehen – und James Nachtwey, im Kegel eines fahlen Scheinwerfers.

Der Starfotograf aus New York machte einleitend unmissverständlich klar, worum es ihm bei seinen Bildern geht: Um Zorn, Mitgefühl, um Leben und Tod – und um Hoffnung.

James Nachtwey widmete in Zürich seine Bilder des Grauens einem befreundeten Fotografen, Joao Silva, der vor kurzem in Afghanistan durch eine Mine schwer verletzt wurde.

Nachtweys Stimme geriet ins Stocken, als er sagte: «Politiker und Feldherren sagen eines und wir Kriegsfotografen mit unseren Bildern etwas anderes; ich glaube den Fotografen.»

Fotogemälde der blutigen Zeitgeschichte

Die Schwarz-Weiss-Bilder von James Nachtwey wirkten auf der monumentalen Leinwand des Auditoriums wie Gemälde der Zeitgeschichte. Zu sehen waren im pechschwarzen Saal abgemagerte, ausgehungerte, amputierte, erniedrigte, gepeinigte, entstellte, starrende, fliehende, im eigenen Blut erstickende und entsetzte Menschen.

James Nachtwey sieht in seinen Bildern einen Teil des kollektiven Bewusstseins. Im besten Fall, so der Kriegsfotograf, könnten seine Ikonen des Schreckens zu einer neuen Sicht von Konflikten und zum

Wertewandel beitragen.

Der amerikanische Starfotograf arbeitet mit langen publizistischen Hebeln. Die Bilder von Nachtwey erscheinen regelmässig in den Leitmedien der Welt wie der New York Times und dem TimeMagazine.

«Ich habe erlebt, wie meine publizierten Bilder dazu geführt haben, dass schlechte und politisch ungenügend begründete Entscheide, die zu Kriegen führten, in den Schaltzentralen der Macht neu überdacht werden mussten.»

Nachtwey fotografiert überlegt und gezielt 

James Nachtwey ist kein romantischer Desperado, der für einen Schnappschuss sein Leben aufs Spiel setzt. «Seit ich 1981 den Nordirland-Konflikt fotografiert habe, weiss ich, dass ich das Richtige mache.»

Nachtwey, der sich das Fotografieren als Autodidakt beigebracht hat, macht sich immer wieder, ohne Mandat, als Zeuge und als Dokumentalist, zu den Schauplätzen der Kriege auf.

Auch das in Genf ansässige Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nutzt die Bildmacht von James Nachtwey: In Afghanistan hat er im Jahr 2009 für die von Henri Dunant gegründete humanitäre Organisation fotografiert.

«Mr. Nachtwey. Sie haben mit ihren Bildern viele Leben gerettet, schrieb mir der Delegationschef. Ein schöneres Kompliment für meine Arbeit hatte ich noch nie bekommen», erklärte Nachtwey.

Dem Horror ein menschliches Gesicht geben 

James Nachtwey, der als junger Mann in den USA das publizistische Umfeld des Vietnamkriegs und der Bürgerrechtsbewegung bewusst erlebt hatte, nimmt mit seinen Bildern Stellung.

Er demaskiert, entlarvt, legt Zeugnis ab, zeigt, welche Folgen politische Entscheide für einzelne Menschen haben können.

«Ich gebe dem Horror aus der Nähe ein menschliches Gesicht; einem Horror, der aus der Ferne abstrakt und ideologisch verbrämt aussehen kann.»

Nachtwey hat in Nordirland, Afghanistan, in Bosnien, Südafrika, Rumänien, in Indien, Tschetschenien, Pakistan, Rwanda, Israel, in Indonesien und auf vielen weiteren Kriegs- und Konflikt-Schauplätzen der Welt fotografiert.

Zur Verantwortung ziehen 

Nach seinen Exkursionen zu den Abgründen der Menschheit kommt er zu einem prekären Schluss: «Alle Konflikte, grosse, kleine und solche mit globalen Implikationen, sind letztlich lokale Geschichten. Was immer an der Basis, im Dorf und in einer Gemeinde passiert: Das Leid und der Tod erfährt immer der einzelne Mensch. Meine dokumentarische Fotografie ist dazu da, die gelebte Geschichte vor Ort aus der Sicht des Individuums zu erzählen. Ich mache mit meinen Bildern die Entscheidungsträger in den Schaltzentralen der Welt für ihr Tun verantwortlich.»

Nachtwey versprach am Anfang seines Vortrags, die Anwesenden mit seinen Bildern auf eine zeitgeschichtliche Reise mitzunehmen. Er hielt Wort und fügte einschränkend bei: Selbst das krasseste Bild könnte nie wiedergeben, was die Millionen von Kriegsopfern durchmachten. «Ich mache jene Menschen mit meinen Bildern sichtbar, die sonst von der Weltgeschichte verschluckt würden.»

Hoffnung als letzter Schrei? 

Am Ende des Vortrags fragte eine junge Frau aus dem Publikum: «Wie können Sie Hoffnung haben, nach all dem, was Sie gesehen und fotografiert haben?» Nachtwey antwortete überlegt und resolut: «Schauen Sie auf jene menschliche, ausgemergelte Gestalt in Ruanda, die nur noch aus Haut und Knochen besteht: Wenn dieser Mensch weitermacht, darf ich auch Hoffnung haben.»

Das Publikum ehrte James Nachtwey mit einem stehenden, Minuten langen Applaus – einer Geste, die den Fotografen vermutlich am meisten überraschte.

In wenigen Jahren hat sich die Photo10 von einer kleinen Ausstellung mit befreundeten Fotografen zur bedeutendsten Werkschau für Schweizer Fotografie entwickelt.

Die Zielsetzung der Schau ist gleich geblieben: An der Photo10 soll gute Fotografie gezeigt und intelligent über sie geredet werden.

Die Werkschau achtet bewusst darauf, dass die ausgewählten Fotografen als Personen im Mittelpunkt stehen.

Sie soll ein Spiegelbild der Schaffenskraft eines künstlerischen Mediums sein, Marktplatz der Macher, ihrer Bilder und Geschichten.

Seit mehr als 20 Jahren schafft der amerikanische Fotograf aus Syracuse, New York, Bilder als «Poesie des Grauens».

Wie kaum ein anderer Fotograf seiner Generation schafft er es, die Schrecken von Krieg und Elend in aufwühlenden und dennoch ästhetischen Fotos darzustellen und die Betrachter aufzurütteln.

Seine Bilder gehen um die Welt und sind eine eindringliche Anklage an alle Kriegstreiber dieser Welt.

Nachtwey ist niemals voyeuristisch: Er fotografiert mit dem Anspruch, der Würde der Opfer gerecht zu werden und die Weltöffentlichkeit auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.

«War Photographer», das im Jahr 2002 für einen Oscar nominierte Werk des Schweizer Dokumentarfilmers Christian Frei, machte James Nachtwey weltweit bekannt.

Frei begleitete Nachtwey zwei Jahre lang bei seiner Arbeit in den zahllosen Krisengebieten der Welt, inmitten von Leiden, Sterben, Gewalt und Chaos.

«War Photographer» ist ein Dokument über einen engagierten und scheuen Menschen, der als bedeutendster und mutigster Kriegsfotograf unserer Zeit gilt.

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