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«Kultur hilft, in den Alltag zurückzufinden»

Thomas Kern

Im Krieg herrschen Angst und Ausnahmezustand. Dabei kann Kultur helfen, der Realität zu entkommen und Hoffnung zu schöpfen. Sie ist auch Ausdruck des Protests gegen Krieg und Gewalt. Das war auch so im Bosnienkrieg, der vor 20 Jahren begann.

«Im Frühling 1992 glaubte niemand an Krieg. Als die ersten Schüsse fielen, dachten alle, das dauere 10 Tage», sagt Almir Šurković. Er war 25 Jahre, als in seiner Heimatstadt Sarajevo der Krieg losging. In dieser Zeit besuchte er die Kunstakademie.

Zu Beginn des Krieges kamen viele Künstler aus Bosnien und Herzegowina sowie aus dem Ausland ins multiethnische Sarajevo, die Kulturhauptstadt des ehemaligen Jugoslawiens. Mit Worten, Bildern und Musik protestierten sie gegen Krieg und Aggression. «Es gab viel Hoffnung und Enthusiasmus. Ich nenne sie die romantische Phase.»

Der Konflikt dauert aber nicht nur ein paar Tage, sondern fast vier Jahre. Über 100’000 Menschen verlieren ihr Leben, über zwei Millionen werden zu Flüchtlingen. Alleine in Sarajevo sterben während der 44-monatigen Belagerung der Stadt mehr als 11’500 Leute.

«In den ersten Monaten gab es noch die Hoffnung auf ein baldiges Ende, aber mit der Zeit versank alles in Dunkelheit, ab Winter wütete ein echter Krieg, eine Riesentragödie», sagt Šurković. Einmal, im Winter 1993, zählte er die Lichter in Sarajevo. «Es waren sechs an der Zahl, kann man sich das vorstellen? Alles schwarz.»

Macht das Sinn?

Almir Šurković lebte zusammen mit seinen Eltern und zwei Brüdern in einem Quartier von Sarajevo, einem «multikulturellen Gemisch des Proletariats». Der Weg zur Akademie, wo hin und wieder Kurse stattfanden, war wegen der lauernden Heckenschützen lebensgefährlich. Nur ganz selten fuhr ein Tram oder ein Bus.

«Wir Künstler trafen uns dort. Wenn ich malte, fragte ich mich oft: ‹Was soll das? Du riskierst dein Leben, um zu zeichnen und zu malen.'»

Den «Alltag» in der belagerten Stadt bezeichnet Šurković als ein Leben zwischen Alptraum und Horrorfilm. «Manchmal musste ich für 10 Liter Wasser 12 Stunden anstehen. Viele Menschen kamen beim Wasserholen ums Leben».

Als besonders schlimm empfand der junge Kunstmaler, dass plötzlich auch das Vertrauen unter Freunden zu bröckeln begann. «Ich bin in einer multireligiösen Gesellschaft aufgewachsen. Das habe ich gar nicht gemerkt, es war mir nicht wichtig», sagt Šurković. «Und plötzlich war man Serbe, Kroate oder Bosniake.»

Als die Offensiven auf Sarajevo anhielten, sei sogar in der Kunstszene die Hoffnung geschwunden. «Es ging ums nackte Überleben. Alles Konstruktive kollabierte, das Zivilisierte kam abhanden.»

Aber auch wenn man Kunst nicht direkt brauche, sie praktisch keinen Sinn mache, so sei sie den Künstlern doch ein Bedürfnis. «Sie bringt uns weg vom Krieg, lässt uns in eine andere Welt abtauchen und die Realität vergessen.»

Kunst als Botschaft

Auch in den schlimmsten Zeiten wurden in Sarajevo im Untergrund Ausstellungen und Konzerte  organisiert, es gab das Kriegstheater, das über all die Jahre hinweg spielte. Und jede Menge «Recycling-Kunst» aus Trümmern der Stadt: So verwendeten Bildhauer für ihre Werke verbrannte Balken von Hausdächern oder Glas, das unter den Bombardements zerborsten war.

«Das war sehr depressiv und für mich zu nahe am Krieg», sagt Almir Šurković. Er malte in dieser Zeit lieber Kopien – von Salvador Dali oder von Rubens .

Schweizer Unterstützung

Die Kulturarbeit im kriegsversehrten Bosnien war nach Kriegsende ein Teil der schweizerischen Wiederaufbauhilfe. Wolfgang Amadeus Brülhart, Kulturrat der Schweizer Botschaft in Sarajevo von 1996 bis Ende 1998, erinnert sich: «Viele Künstler – Maler, Schriftsteller, Filmschaffende – sehnten sich nach dem Krieg nach Kultur. Sie war Hoffnung im und nach dem Krieg.»

Der heutige Chef der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika in der Politischen Direktion in Bern und früherer Schweizer Botschafter in Abu Dhabi ist überzeugt, dass sich die Leute nach dem Krieg nach Normalität sehnten. Und Normalität bedeute, ins Theater, ins Kino, an Vernissagen zu gehen. «Das hilft, in den Alltag zurückzufinden.»

So stellte er bosnischen Künstlern, die kein Atelier mehr hatten, in seiner Residenz eine kleine Galerie zur Verfügung, wo sie in Ruhe arbeiten konnten. Er organisierte Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen. Schon bald nannte man ihn in der Szene den «Amadeus von Sarajevo».

Die Schweiz wurde auch wichtigste Partnerin des Filmfestivals von Sarajevo, das im letzten Kriegsjahr entstanden war. Dank Unterstützung von Schweizer Bürgern kamen Spenden für die Anschaffung von Stühlen für das Open-Air-Kino zusammen. Heute ist das Festival etabliert und geniesst regionale und internationale Ausstrahlung.

Gespaltene Gesellschaft

Gefördert wurde auch der Austausch von Künstlern. Auf diesem Weg kam Almir Šurković 1998, also drei Jahre nach Kriegsende, zusammen mit anderen bosnischen Künstlern für sechs Wochen in die Kulturfabrik Burgdorf. Während der Ausstellung seiner Bilder verliebte er sich in eine Schweizerin. Seit 1999 lebt er in Bern.

1998 reiste die damalige Kulturministerin Ruth Dreifuss nach Sarajevo, um die mit Schweizer Geldner renovierte Nationalgalerie zu eröffnen. Bei dieser Gelegenheit betonte sie, dass der Aufbau von Kultur und Bildung besonders wichtig sei: «Denn die Gesellschaft baut sich durch die Seele auf.»

Der Aufbau einer bosnischen Gesellschaft gestaltet sich allerdings als schwierig in einem Staat, der durch das Dayton-Abkommen in eine bosnisch-kroatische Föderation mit Sitz in Sarajevo und in eine serbische Republik mit Banja Luka als Hauptstadt aufgeteilt wurde. Das zeigt sich auch darin, dass das Verständnis für eine gesamtbosnische Kultur fehlt und der Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina über kein entsprechendes Ministerium verfügt.

Auch ein Hetzmittel

Kultur, so Wolfgang Amadeus Brülhart, könnte einerseits Hass überwinden helfen. «Sie wurde vor und während des Krieges aber auch missbraucht, was sogar Künstlergemeinschaften auseinander brachte. Dass Kultur wieder als gemeinsames Fundament verstanden wird, war nach dem Krieg schwierig.»

Es gibt aber auch Hoffnung. So hat die Kunstakademie Sarajevo seit Kriegsende viele Talente hervorgebracht. «Die ursprüngliche Tradition von Sarajevo als Kulturstadt ist wieder da, das spüre ich, wenn ich wieder ans Filmfestival zurückkehre. .»

Auch Almir Šurković spricht wieder von einer Kulturstadt Sarajevo. Die Szene sei jedoch weniger stark als zuvor. Um die gravierenden Probleme zu lösen, brauche es die Politik. «Kunst ist eine schöne Mission und kann helfen, Wunden zu heilen. Gegen Nationalismus bringt sie aber nichts. Das ist frustrierend für die Künstler.»

Zwischen der Schweiz und Bosnien-Herzegowina besteht ein reger kultureller Austausch. Das von Pro Helvetia geleitete Schweizer Kulturprogramm für Südosteuropa eröffnete im Juli 2008 ein neues regionales Büro in Sarajevo.

Die Schweiz ermöglichte die Renovation der bosnischen Nationalgalerie, die 1998 wiedereröffnet wurde.

Zudem half sie beim Aufbau des Sarajevo Filmfestivals mit, dessen Menschenrechts-Preis sie finanziert.

Zusammen mit der Youth Initiative for Human Rights unterstützt sie die Teilnahme junger Aktivistinnen und Aktivisten aus der Region an Screenings und Diskussions-Runden. Zudem lädt sie dieses Jahr drei Schülergruppen aus ganz Bosnien ein.

Sie unterstützt das Filmfestival für Menschenrechte in Sarajevo, die Frankophonie, deutsche Sprachtage und die «Settimana della lingua italiana», die European Film Week und viele einzelne Aktivitäten.

Nach dem Krieg spendete die Schweiz öffentliche Schachspiele für Sarajevo und Banja Luka, die rege genutzt werden.

Der Krieg dauert fast vier Jahre und fordert rund 100’000 Menschenleben. Mehr als 2,2 Millionen Menschen müssen fliehen.

Sarajewo wird 44 Monate lang belagert. Über 11’500 Personen werden in dieser Zeit getötet, davon mehr als 1600 Kinder.

Gemäss dem 1995 unterzeichneten Friedens-Abkommen von Dayton wird Bosnien-Herzegowina in die halbautonome serbische Republika Srpska und in die muslimisch-kroatische Föderation unterteilt.

Bosnien ist auch heute noch tief gespalten. Die Teilrepubliken geniessen weitgehende Autonomie, die Zentralregierung gilt als äusserst schwach.

Der politische Stillstand und die von ethnischen Konflikten geprägte Gesellschaft haben Bosnien zu einem der ärmsten Länder Europas gemacht.

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