Ein Schatz militärischer Architektur öffnet sich dem Publikum
Im Rahmen des europäischen Jahres der Kulturlandschaft hat das Publikum freien Zugang zu einem grossen Teil der Stadtmauern von Freiburg. Das ist eine Gelegenheit, eine der am besten erhaltenen Festungsanlagen der Schweiz und Europas zu entdecken.
Die Besucher können derzeit auf den Stadtmauern Freiburgs spazieren gehen oder einige der Festungstürme besteigen, die im Mittelalter gebaut wurden. Der Zugang zu diesen militärischen Anlagen, der normalerweise verboten ist, ist im Rahmen des europäischen Jahres der Kulturlandschaft möglich.
«Aussergewöhnlich ist vor allem der Umfang des Wehrmantels. Er ist sehr gut erhalten und immer noch in seiner Ganzheit ersichtlich, was eher selten der Fall ist. Selbst an den am wenigsten gut erhaltenen Stellen gibt es wichtige Relikte, welche die Grenzen der mittelalterlichen Stadt erkennen lassen», erklärt Gilles Bourgarel, Experte für Archäologie des Mittelalters.
Der grosse Umfang wird für jene Besucher deutlich spürbar, welche die rund 800 Meter lange Mauer abschreiten. Es ist die längste zusammenhängende Festungsmauer der Schweiz.
Verteidigung, Prestige und… Polizei
Die Festungsmauern von Freiburg wurden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und zu Beginn des 15. Jahrhunderts gebaut. Das ursprüngliche Ziel war die Verteidigung. Die Stadt wollte sich unter anderem gegen Angriffe der grossen benachbarten Stadt Bern schützen. Aber der Bau der imposanten Festung war auch eine Frage des Prestiges.
«Die Anzahl errichteter Türme – deren acht – im hintersten Teil der Anlage im Norden ist deutlich höher, als was erforderlich gewesen wäre. Angesichts der Reichweite der Bögen und Armbrüste hätten weniger Türme ausgereicht. Mit dem Bau der vielen Türme wollte die Stadt ihrer Macht und Prosperität Ausdruck verleihen», sagt Bourgarel.
Aber die Türme und Mauern hatten auch eine polizeiliche Funktion, die weniger bekannt ist. «Damals wurden nachts die Tore geschlossen, um Vagabunden und anderen unerwünschten Leuten den Zugang zur Stadt zu verwehren», sagt der Archäologe.
Anpassung an die Artillerie
Die historische Stätte Freiburgs ist auch deshalb interessant, weil sie zeigt, wie sich die militärische Architektur den Fortschritten der Artillerie ab dem 15. Jahrhundert anpasste. Während die Türme und Mauern vorher steil und hoch waren, wurden sie später herabgesetzt und verdichtet, um nicht Blickpunkt zu sein und den Einschlägen zu widerstehen. In Freiburg sind diese Anpassungen heute im Stein, in diesem Fall der Molasse, sichtbar.
«Die hohen Türme des Mittelalters waren ideale Ziele, und wenn sie von einer Kugel getroffen wurden, stürzten sie in die Gräben und füllten diese auf. Dadurch wurden sie für die Verteidiger eher zur Gefahr als zum Vorteil», erklärt Bourgarel.
Aber die Angreifer hatten kein Vorrecht auf die Artillerie. Diese wurde auch zur Verteidigung eingesetzt. In diesem Zusammenhang gibt es in Freiburg ein seltenes militärisches Bauwerk, das landesweit am besten erhaltene Bollwerk (Belluard). Es handelt sich um halbkreisförmige Anlagen, die in die Türme oder die Festungsmauer integriert sind und in denen Kanonen aufgestellt wurden.
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Die Kunst, der Artillerie zu widerstehen
Für Zerstörung zu teuer
Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand in der Schweiz und anderen Ländern Europas ein Rückbau der städtischen Festungsanlagen statt. Diese Bauwerke waren wegen des Fortschritts der Artillerie obsolet geworden. «Um wirksam zu sein, hätten die Festungen den gleichen Umfang haben müssen, wie die Stadt, die sie schützen sollten, was nicht machbar war», sagt Gilles Bourgarel.
Ausserdem erlebten die Städte eine starke Entwicklung, die sie zwang, sich über die mittelalterlichen Grenzen hinweg auszudehnen. Die Festungen wurden zum Hindernis, das zu beseitigen war.
Auch Freiburg konnte sich diesem Phänomen nicht entziehen. Mit dem Rückbau wurde in jenen Zonen begonnen, wo die Türme und Mauern den Verkehr und die Entstehung neuer Quartiere behinderten. Das geschah zuerst in der Nähe des Bahnhofs, dem eigentlichen Symbol der Modernität im 19. Jahrhundert. Im Herzen der modernen Stadt wurde nur ein einziger Turm verschont, vielleicht, weil er sich neben einem Friedhof befand.
«Erhalten geblieben sind die Festungen im steilen, kaum zugänglichen Gelände. Der Abbau war angesichts der Materialkosten bestimmt nicht rentabel. Das dürfte sie gerettet haben. Erst Ende des 19. und anfangs 20. Jahrhundert wurde man sich der Bedeutung des kulturellen Erbes bewusst. Aber zu dieser Zeit war schon die Hälfte der Türme und Mauern zerstört», bedauert der Archäologe.
Ein Trost für die Liebhaber der Kulturlandschaft mag sein, dass die erhaltene Hälfte ein aussergewöhnliches Relikt des Mittelalters ist. Dieses ist für die Öffentlichkeit bis am 31. Oktober offen.
Am 17. Mai 2017 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union 2018 zum «europäischen Jahr des Kulturerbes» ernannt.
Gemäss dem EntscheidExterner Link des 17. Mai hat das Jahr zum Ziel, das Kulturerbe als zentrales Element der kulturellen Vielfalt und des interkulturellen Dialogs zu fördern, die besten Massnahmen zum Schutz und zur Bewahrung zu unterstützen sowie die Kenntnisse eines breiten und vielseitigen Publikums zu entwickeln.
Die Schweiz beteiligt sich am Jahr des Kulturerbes. Das Bundesamt für KulturExterner Link unterstützt die Kampagne als Ganzes. Verschiedene öffentliche und private Kulturakteure bieten ein vielseitiges ProgrammExterner Link während des ganzen Jahres.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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