Wie eine Schweizerin den Karneval nach Bremen brachte
Janine Jaeggi organisierte vor 34 Jahren den ersten Samba-Karneval der Hansestadt Bremen in Deutschland. Der bunte Umzug zählt heute zu den grössten seiner Art in Europa.
Nur noch wenige Wochen, dann ziehen sie wieder durch die Strassen der Bremer Altstadt und bringen die kühlen Norddeutschen in Stimmung: Hundert Samba-, Masken- und Stelzengruppen verjagen Ende Februar mit Sambarhythmen und kreativen Kostümen winterliche Gefühle aus der Stadt. Ganz vorne mit dabei wird wie in jedem Jahr die in Zürich geborene Janine Jaeggi sein, dieses Mal hoch auf Stelzen als Schmetterlingselfe.
Ohne sie würde es den Bremer Samba-KarnevalExterner Link nicht geben: Die Künstlerin kam vor nunmehr 34 Jahren mit Gleichgesinnten auf die Idee des winterlichen Umzugs. Ein durchaus gewagtes Unterfangen, denn den zurückhaltenden Norddeutschen liegt der Karneval, die Fasnacht oder der Fasching, wie er je nach Region in Deutschland genannt wird, nicht gerade im Blut. Zumindest, so die Schweizerin, zeigt er seine Begeisterung nur sehr verhalten. «Wenn der Bremer mit den Füssen wippt, ist er in Ekstase», sagt sie lachend.
Zehntausende schauen zu
Im Februar 1986 zogen beim ersten Umzug 100 Teilnehmer durch die Bremer Innenstadt. In diesem Jahr werden es 1500 sein. Zehntausende schauen vom Strassenrand aus zu. «Am schönsten ist es, wenn beide Welten sich dann verbinden», sagt Jaeggi. Wenn die Künstler sich mit ihren Figuren unter die Zuschauer mischen und mit ihnen ihre Spässe treiben.
Sie hält von Beginn an als künstlerische Leiterin die choreographischen Gesamtfäden des Karnevals in der Hand und war zudem in jedem Jahr mit eigenen Kostümkreationen dabei. 2001 wechselte sie vom Boden auf bis zu ein Meter hohe Stelzen und erhebt seither ihre fantasievollen Kreationen in die Luft. Aus der 1,58 grossen Künstlerin wird so ein bunter Ara oder ein Schmetterling, der über allen Köpfen schwebt, eine Eiskönigin oder ein Oktopus. «Ein toller Perspektivenwechsel», sagt sie.
Janine Jaeggi war erst 17 Jahre alt, als sie 1982 zunächst nach Berlin ging, um Tanz und Theater zu lernen. Die Eltern liessen die Tochter ziehen und vertrauten ihr. Die Kunst liegt der Familie einfach im Blut. Janines ältere Schwestern hatten da bereits ihre Berufung gefunden: als Schauspielerin, Tänzerin und Malerin.
Die junge Frau stürzte sich in Berlin in die freie Kulturszene, besuchte Workshops, Kurse in Aikido, Theater, Tanz und Trommeln und mischte beim berühmten Karneval der Kulturen mit, einem riesigen multikulturellen Umzug durch die Stadt. Das Karnevals-Feuer war entfacht.
Als sie dann 1985 ins norddeutsche Bremen zog, fand sich die Schweizerin in einer karnevalsfreien Zone wieder. Also kreierte Jaeggi mit Gleichgesinnten eine eigene Variante, den Bremer Karneval. Über die Jahre hat er sich als festes Ereignis im Kulturkalender der Stadt etabliert und wird finanziell gefördert. Aber ohne viele Ehrenamtliche wäre er nicht zu stemmen.
Die Natur ist Vorbild
In diesem Jahr lautet das Motto «Laune der Natur». Über Monate hinweg hat Jaeggi mit ihrem Partner Martin Sasse und vielen freiwilligen Helfern an aufwändigen Schmetterlingskostümen gearbeitet. Sie haben Stoffe bemalt und geschneidert sowie Kopfbedeckungen kreiert.
«Im Winter verbringen wir viel Zeit im Atelier», erzählt sie. Wer sie dort besuchen will, muss seinen Weg über verwinkelte Treppen in das Dachgeschoss eines alten Bremer Kontorhauses finden. Früher residierte in dem Gebäude eines der zahlreichen Handelsunternehmen der alten Hansestadt. Heute bietet es Raum für die freie Kunstszene.
Auf den Tischen unter den Dachschrägen stehen inmitten von vielen Stoffen Nähmaschinen, an den Wänden kleben Zeitungsausschnitte. Fast fertige Kostüme hängen an Schaufensterpuppen, auf deren Köpfen thronen die Masken für die Schmetterlingselfen.
Woher nimmt sie die Inspirationen für all die wahrhaftig fabelhaften StelzenwesenExterner Link, die hier im Lauf der Jahre entstanden sind? Jaeggi öffnet einen voluminösen Bildband mit wunderbaren Fotos von Unterwasserwesen: Korallen, Quallen, namenlose farbenfrohe Lebewesen mit fantastischen Formen, versehen mit Noppen, langen Fühlern oder Rüsseln. Die Natur steht häufig Vorbild für Formen und Farben, so auch für den StelzenoktopusExterner Link, der mit aufgeblasenen und von innen leuchtenden Tentakeln die Menge umarmt.
Im richtigen Leben sichern die über viele Jahre hinweg für den Karneval entworfenen Stelzenfiguren den Lebensunterhalt für sie und ihren Partner. Die Performance-Künstler ihres kleinen Unternehmens Stelzen-ArtExterner Link haben ihre Figuren bereits in ganz Deutschland und auch auf Festivals in China, Dakar und Spanien vorgeführt. «Wir sind sehr viel unterwegs» sagt Jaeggi. Bis zu hundert Auftritte im Jahr absolvieren sie zu zweit aber auch in grossen Formationen.
Archaische Anklänge aus der Schweiz
Doch ihre Wunderwelt ist nicht nur bunt, sie besitzt auch eine dunkle, mystische Seite, wie Jaeggi sie schon als Kind in der Schweiz erlebt hat. Sie öffnet ein zweites Buch mit Aufnahmen von der Luzerner Fasnacht. «Das Archaische, das Dunkle ist für mich das Interessante am Karneval», sagt Jaeggi.
Schon ihr Vater tauchte während ihrer Kindheit über Tage hinweg in den Zürcher Künstlerkarneval ab. Heute tut sie es ihm gleich und erzählt von der Beglückung, die das Verkleiden, das Versinken in den Trommelklängen und die Begegnung mit dem Publikum mit sich bringt.
Bremen ist ihr Zuhause geworden, um die Ecke vom Atelier besitzt sie mit ihrem Partner ein Haus. Doch ihre Verbindungen in die Schweiz, wo ihre drei Schwestern und ihre Mutter leben, sind nach wie vor eng. Auch nach 35 Jahren in Deutschland verspürt die Eidgenossin kein Verlangen, ihre Staatsbürgerschaft zu wechseln.
«Ich bin so gerne Schweizerin» sagt sie. In der Vorweihnachtszeit trat Jaeggi gemeinsam mit ihrer Nichte als Stelzenkünstlerinnen auf dem Zürcher «Wienachtsdorf» auf. Ihr Gesicht strahlt, als sie ein gemeinsames Foto zeigt. «Es war sehr emotional, mit der eigenen Arbeit in die Schweiz zu kommen», sagt sie.
Karneval, Fasnacht, Fasching
Nicht nur die Bezeichnung, auch die Bräuche und Hintergründe des Karnevals unterscheiden sich in Deutschland je nach Region. Allen gemein ist das Verkleiden und das Vertreiben des Winters.
Im Rheinland, besonders in Köln und Düsseldorf, treibt der rheinische Karneval rund um Rosenmontag die Menschen auf die Strassen. Die Mainzer nennen ihre Variante Fassenacht, die Bayern Fasching.
In Baden-Württemberg feiert man die schwäbisch-alemannische Fastnacht (in Baden Fasnet genannt). Die ist weit ernster als das rheinländische Pendant, in dem gerne gesungen, auf den Tischen getanzt und geschunkelt wird.
Die norddeutschen Hansestädte Bremen und Hamburg kennen eigentlich keinen Karneval. Auch in Berlin konnte sich ein nach der Wiedervereinigung von zugezogenen Rheinländern eingeführter Rosenmontags-Umzug nicht etablieren. Er wurde wegen zu hoher Kosten und mangelnder Resonanz wieder beerdigt.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch