Pipilotti Rist: Geniale Videokünstlerin verzaubert ihre Wahlheimat
Siebzehn Jahre nach ihrer ersten grossen Ausstellung in Zürich nimmt Pipilotti Rist das Kunsthaus in Beschlag und verzaubert es mit ihren farbenfrohen und melancholischen Inszenierungen. Man trifft auf die klassischen Motive ihres Werks, die in einer schillernden Hommage an die Pixel kulminieren.
Wirbelnde Pflanzen in farbigen Wolken, schwimmende Figuren in Zeitlupe, Krimskrams, Bücher und Videos, die auf unwahrscheinlichste Hintergründe projiziert werden: Kenner können ab Freitag die für Pipilotti Rist typische, verzaubernde und rätselhafte Atmosphäre, heiter und melancholisch zugleich, wieder entdecken. Die AusstellungExterner Link, die erste der Künstlerin in einem Museum in ihrer Wahlheimat Zürich seit einer Schau 1999 in der KunsthalleExterner Link, bietet dem Publikum einen breiten Überblick über die vielen Facetten der St. Gallerin.
Kurzbiografie
Pipilotti Rist wurde 1962 in Grabs (Kanton St. Gallen) geboren, im Rheintal, wie sie gerne unterstreicht.
Von 1982-1986 studierte sie an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien Gebrauchskunst, Illustration und Fotografie, von 1986-1988 an der Schule für Gestaltung in Basel audiovisuelle Gestaltung.
Ihre ersten Werke entstanden 1986. Bis 1994 arbeitete sie zudem als Computergrafikerin in der Industrie. Daneben spielte sie Musik und war von 1988-1994 Mitglied der Band «Les Reines Prochaines».
Später war sie die erste künstlerische Direktorin der Landesausstellung «Expo.02», ein Mandat, das sie auch einem breiteren Publikum in der Romandie näher brachte.
Pipilotti Rist hat im Verlauf ihrer bisherigen Karriere schon zahlreiche Preise gewonnen (unter anderem den Preis der Fondation Juan Miró 2009 und den Meret-Oppenheim-Preis 2014). Sie gilt als eine der bedeutendsten Videokünstlerinnen der Gegenwart.
Ihre Werke wurden in den bekanntesten Museen der Welt ausgestellt. 2002/2003 hatte sie eine Gastprofessur an der University of California in Los Angeles.
Pipilotti Rist hat einen Sohn. Sie lebt in Zürich und in den Schweizer Bergen.
Bei dieser Künstlerin, deren Namen von Pipi Langstrumpf abgekupfert ist, verhindern Freude und die natürlich gute Laune von Kinderspielen komplexe Fragestellungen nicht. Nostalgie und modernste Technologien gehen Hand in Hand.
Die Künstlerin befasst sich mit Sinnlichkeit und dem Körper, mit der Stellung der Frau, mit Ängsten, Träumen, dem Zustand der Welt und mit unseren persönlichen Erinnerungen – wobei diese Liste nicht abschliessend ist.
Neben Thomas Hirschhorn, Fischli/Weiss, Christian Marclay, Roman Signer oder Ugo Rondinone, um nur einige zu nennen, gehört Pipilotti Rist zu den bekanntesten zeitgenössischen Schweizer Kunstschaffenden weltweit.
Die Videokünstlerin, die durch die Galerie Hauser & WirthExterner Link vertreten wird, exponiert sich im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen, sie setzt sich in Szene, verformt sich, indem sie sich aus allen Blickwinkeln filmt. Musikerin, Sängerin, Schauspielerin und Poetin: Sie kombiniert die unterschiedlichsten Medien und deren Blickwinkel.
Ausstellungs-«Heim»
Im Saal des KunsthausesExterner Link, der eine Fläche von 1400 Quadratmetern ohne Säulen oder andere feste architektonische Elemente umfasst, betreten Besucher und Besucherinnen ein riesiges «Heim», mit einer Stube, einem Büro, einem Esszimmer und einem Balkon-Garten. Es hat nur wenig Licht, denn fast überall werden kurze Videos auf jegliche Art von Hintergründen projiziert.
Besucherinnen und Besucher erhalten für den Gang durch die Schau einen Plan und eine Mini-Taschenlampe. Hier und dort kann man sich setzen, hinlegen, Bücher anschauen oder meditieren. An gewissen Orten ist man völlig umgeben von Videos.
Da Pipilotti Rist mit Interviews zurückhaltend ist, führt Mirjam Varadanis, die Kuratorin, durch die Ausstellung. Auch wenn alle Schaffensperioden der Künstlerin vertreten sind, angefangen mit den 1980er-Jahren, die geprägt sind von den «Einkanal-Videos» (das bekannteste darunter «I’m Not The Girl Who Misses Much»), handelt es sich bei der Ausstellung nicht um eine klassische Retrospektive.
«In Zürich hat eine ganze Generation die Werke von Pipilotti Rist noch nie gesehen», sagt Varadinis. «Deshalb entschieden wir uns für eine Mischung aller Perioden, die, wie alle Werke von Pipilotti, unsere unterschiedlichsten Formen der Wahrnehmung hinterfragen.»
Experimente
Transparente Vorhänge bilden den Eingang. Es handelt sich um das Werk «Administrating Eternity» («Verwaltung der Ewigkeit», 2011). Die Besucher und Besucherinnen werfen Schatten und werden so zu einem Teil der Installation.
Danach öffnet sich ihnen das «Heim», mit seinen kleinen Geschichten, die mit jedem der Objekte erzählt werden, sei es ein Buchstabe des Alphabets für Kinder, eine «Raumkapsel», die einen Raum aus der Vergangenheit neu schafft, der bekannte Make-Up-Tisch oder das grosse Bett.
«Pipilotti Rist sprengt den klassischen Rahmen der Projektion», so Varadanis, die für die Vorbereitung der Ausstellung mehr als ein Jahr mit der Künstlerin gearbeitet hatte. «Oft ist die Quelle eines Bildes schwer zu finden. Ziel ist es, der Betrachterin oder dem Betrachter zu ermöglichen, mit der wechselnden Wahrnehmung zu experimentieren, je nachdem, wo man steht.»
Pipilotti Rist ist eine engagierte Künstlerin, die an vielen politischen Appellen von Kunstschaffenden teilgenommen hat (vor allem gegen Initiativen, die aus rechtskonservativen Kreisen lanciert wurden). Es ist denn auch nicht erstaunlich, Spuren dieses Engagements in den an verschiedenen Orten ausgestellten Büchern zu finden. So steht «The Face of Human Rights», ein Fotobuch zum Thema Menschenrechte, neben Katalogen, die anderen Kunstschaffenden gewidmet sind, die sie so würdigt.
«Warum das alles?»
«Die Aufgabe der Kunst ist, zur Evolution beizutragen, den Geist zu ermutigen, einen distanzierten Blick auf soziale Veränderungen zu garantieren, positive Energien zu beschwören, die Sinne, das heisst, die Augen und Ohren, und die Sinnlichkeit zu fördern. Wir (Künstlerinnen und Künstler), müssen dazu beitragen, dass alle besser verstehen, wir sind auch Tiere und müssen Verstand und Instinkt zusammenbringen, versöhnen, müssen Möglichkeiten ausloten und Klischees und Vorurteile zerstören.»
Exposé von Pipilotti RistExterner Link, im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, 2009.
Auf der anderen Seite des Esszimmers wurde eine Art «Studio zur Geschichte des Videos» eingerichtet», wie Varadinis erklärt: Von den ersten «Mac»-Computern, an denen Pipilotti Rist herumbastelte, um neue Ansichten zu gewinnen, indem sie zum Beispiel einen Spiegel auf der Bildschirmseite anbrachte, bis zu den neusten Modellen, womit man in gewisser Weise den Weg der Videokünstlerin nachvollziehen kann.
Fliessende Grenzen
Pipilotti Rist bringt die Orte zum Leben, die sie in Beschlag nimmt, und sie stellt damit auch den Zusammenhang zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum in Frage.
So bat sie zum Beispiel die Angestellten des Museums, die Klarsichtfolien, in denen ihr Essen verpackt ist, aufzubewahren, zu waschen und danach in der Kantine zu lagern. Das Resultat ist Teil der «Unschuldigen Sammlung», ein Work in Progress.
Das jüngste Werk in der Ausstellung trägt den Titel «Pixelwald». Hinter langen Kabelgirlanden mit LED-Leuchtkristallen, die ihre Farbe immer wieder ändern, werden drei grossformatige Videos projiziert: Auf der einen Seite läuft «Sip My Ocean» («Schlürfe meinen Ozean») mit dem berühmten Song von Chris Isaak, «Wicked Games», im Wechsel mit «Ever is Over All» («Immer ist überall/Immer ist vorbei»), auf der anderen Seite «Worry Will Vanish Horizon».
«Diese Leuchtkristalle sind wie die Pixel eines riesigen Bildschirms zu verstehen, der in den Raum explodierte», erklärt Varadanis die Idee der Künstlerin hinter dieser Installation. In einer Welt, in der jedes Bild aus Millionen Pixeln besteht, kann man hier auch eine Hommage an eine «qualitativ schlechte Auflösung» sehen, sind es hier doch nur 3000 Pixel, respektive Leuchtkörper.
Letztlich ist auch die Ausstellung selbst als Kunstwerk zu sehen, oder als Choreografie, je nach Geschmack. Man kommt vergnügt aus der Schau, trotz dem Hauch leichter Melancholie, der teilweise zu spüren war. Die farbenfrohe Leichtigkeit, die zum Markenzeichen von Pipilotti Rist gehört, wird auch von aussen zu bewundern sein, denn auf Teile der Fassaden werden Videos projiziert werden – und im Garten des Kunsthauses werden grosse Seifenblasen in die Atmosphäre entweichen. Die Schau läuft bis zum 8. Mai 2016.
Die Ausstellung
Die erste Ausstellung von Pipilotti Rist in einem Zürcher Museum seit 1999 trägt den Titel «Dein Speichel ist mein Taucheranzug im Ozean des Schmerzes».
«Der Satz stammt aus einem vor langer Zeit mit Anders Guggisberg in Englisch geschriebenen Song», erklärt die Kuratorin Mirjam Varadinis. «Er verweist auf viele bedeutende Elemente im Werk von Pipilotti Rist – Speichel, Blut, alle Flüssigkeiten – und thematisiert alles, was von innen kommt und nach aussen fliesst, wie eben auch das Blut.»
Wie im Film «Pepperminta»Externer Link (2009) stellt Pipilotti Rist immer wieder Tabus in Frage, vor allem solche, die im Zusammenhang stehen mit Frauenblut.
Der Katalog zur Ausstellung entspricht zudem nicht klassischen Normen: In Form eines Glossars enthält er etwa 70 Stichworte, von A für «Angst» bis Z für «Zerstörung».
Freundinnen und Freunde, Schriftsteller und Forscherinnen, aber auch Kinder wurden eingeladen, Texte beizusteuern.
Zudem finden sich im Katalog 12 Bildtafeln, die herausgenommen und nach eigenem Gutdünken verwendet werden können.
Im Rahmen der Ausstellung wird ferner eine Performance der aus dem Jura stammenden Tänzerin und Choreografin Eugénie RebetezExterner Link zu sehen sein; die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit Pipilotti Rist.
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