Kuratorin Bice Curiger: Von Zürich in die Welt
Bice Curiger ist eine der umtriebigsten Kuratorinnen der Schweizer Kunstszene. Ihr Schaffen erzählt auch von der Erfolgsgeschichte der zeitgenössischen Kunst – in der Schweiz und international.
1998 landeten mit flauschigem weissem Stoff bezogene Raketen und Satelliten im Kunsthaus Zürich. «First Spaceship on Venus» – ein Werk der Genfer Künstlerin Sylvie Fleury – wurde in einem der repräsentativsten Sammlungssäle des Hauses mitten zwischen den Gemälden des Malers Johann Heinrich Füssli (1741-1825) gezeigt.
Die grossangelegte Schau, die die Kuratorin Bice Curiger im Kunsthaus organisiert hatte, bot mehr als einen Überblick über das Kunstschaffen der 1990er-Jahre in der Schweiz. Fleurys Raketen und Satelliten und die Werke von annähernd hundert anderen Künstlerinnen und Künstlern bewiesen, dass zeitgenössische Kunst endgültig auch die altehrwürdigen Museumssäle erobert hatte. Der Titel der Ausstellung war zudem programmatisch: «Freie Sicht aufs Mittelmeer» nahm einen Slogan der Zürcher Bewegung um 1980 auf: «Nieder mit den Alpen – Freie Sicht aufs Mittelmeer» – und demonstrierte so die internationale Ausrichtung der Schweizer Kunst.
Bice Curiger hat grossen Anteil daran, dass die zeitgenössische Schweizer Kunst international so sichtbar wurde. Und dies nicht nur als Kuratorin, sondern auch als Herausgeberin und Autorin. Als ich sie für mein Buch C is for Curator. Bice Curiger – eine Arbeitsbiografie befragte, meinte sie: «Für mich war das nie so stark getrennt. Ob ich Kunst auf Buchseiten vermittle oder in einem Raum, das ist fliessende Arbeit.»
1984 gründete Curiger zusammen mit der Kunsthistorikerin Jacqueline Burckhardt, dem Verleger Walter Keller und dem New Yorker Galeristen Peter Blum die Kunstzeitschrift Parkett. 33 Jahre war sie Chefredakteurin. Die Zeitschrift erschien zweisprachig englisch und deutsch und wollte so die gegenseitige Wahrnehmung zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Kunst fördern.
Dass Parkett eines der renommiertesten internationalen Kunstmagazine wurde, lag nicht nur an herausragenden Künstlerinnen und Künstlern wie Louise Bourgeois, Sigmar Polke, Meret Oppenheim (über die Curiger 1982 die erste Monografie verfasst hatte), Fischli/Weiss, Bruce Nauman oder Katharina Fritsch, die in Parkett diskutiert wurden. Die Zeitschrift wurde bald zur Pflichtlektüre für viele, die sich für das zeitgenössische Kunstgeschehen interessierten.
Der heute international bekannte Kurator Hans Ulrich Obrist erinnert sich: «Das Parkett-Büro war damals irgendwie das Headquarter Central of Contemporary Art, eine Anlauf- und Schnittstelle. Für mich als Teenager war es ein magnetischer Ort, und ich denke, ich bin nicht der Einzige, der das so empfand. Unglaublich wichtig für mich war später, dass Bice mich einlud, einen Text für Parkett zu schreiben. Mit diesem Text hat quasi meine internationale Kuratorenentwicklung begonnen.»
2011 wurde Curiger Direktorin der Biennale von Venedig – als erste Frau und als zweite Schweizerin nach Harald Szeemann. Gerade der 1933 geborene Szeemann hat das Bild des freien Kurators oder Ausstellungsmachers, wie er sich nannte, entscheidend geprägt. Die 1948 geborene Curiger gehört zur unmittelbar nachfolgenden Generation, die eigene Schwerpunkte legte – etwa indem sie viel mehr Künstlerinnen zeigte als der Berner Kurator.
Von der Szene in die Institution
Zeitgenössische Kunst weckte schon früh das Interesse Curigers. Als Teenager hatte sie sich für Pop Art begeistert. Doch als sie in den 1970er-Jahren in Zürich Kunstgeschichte studierte, war an der Universität das aktuelle Kunstschaffen kein Thema.
Durch die Vermittlung eines Kommilitonen begann sie, für den Tages-Anzeiger Kunstkritiken zu schreiben. Und dann gab es noch den Zürcher Underground, der sie anzog – experimentierfreudige Kunststudenten, Künstlerinnen, Literaten und Lebenskünstler aller Art – die sich in den vielen Bars der Zürcher Altstadt trafen. Hier fand sie Gleichgesinnte und Austausch.
1975 organisierte sie gemeinsam mit anderen Frauen im Zürcher Strauhof die Ausstellung «Frauen sehen Frauen». Die Schau war keine reine Kunsthausstellung: Die Erfahrungen von Frauen wurden von Künstlerinnen, Studentinnen, Soziologinnen, aber auch der glamourösen Prostituierten Lady Shiva dargestellt, analysiert und persifliert. «Frauen sehen Frauen» war ein kollektives Unternehmen. Mit «Saus und Braus» organisierte Curiger dann 1980 ihre erste Ausstellung allein. Auch hier stand die Zürcher Szene im Fokus. Es war zudem der erste gemeinsame Auftritt von Peter Fischli und David Weiss, die dort ihre Wurstserie (1979) zeigten.
Zeitgenossenschaft und Geschichte
1992 wurde Curiger dann Kuratorin am Kunsthaus. Dort begann sich auch dafür zu interessieren, neue Kunst und ältere Kunst zusammen zu zeigen und damit eine andere Form von Kunstgeschichte zu erzählen. Auf einer Kunstkritikertagung war sie 1989 in Tiflis auf den damals im Westen kaum bekannten georgischen Maler Niko Pirosmani gestossen.
Während die anderen Kunstkritiker bei einem Museumsbesuch achtlos an den Gemälden des Autodidakten vorbeigingen, war sie frappiert von der Kraft der Werke und sah dort Potenzial. In der Ausstellung «Zeichen und Wunder. Niko Pirosmani (1862-1918) und die Kunst der Gegenwart» waren 1995 Gemälde des georgischen Künstlers neben Werken von unter anderem Jeff Koons und Katharina Fritsch zu sehen.
«Deftig Barock» präsentierte 2012 Gemälde der Barockzeit mit zeitgenössischer Kunst und eröffnete so neue Sichtweisen in beide Richtungen. «ILLUMINazioni», der Titel der von ihr kuratierten Biennale von Venedig zeigte drei Gemälde des venezianischen Malers Giacopo Tintoretto (1518-1594) aus der Zeit des Manierismus.
2013 wurde Curiger künstlerische Leiterin der neugegründeten Fondation Vincent van Gogh Arles. Auch hier verfolgt sie das Ziel, einen lebendigen Ort zu schaffen, der van Goghs Kunst innovativ mit zeitgenössischer Kunst verbindet. Ihre Ausstellungen sind sinnlich, präzis, aber nie didaktisch. Entscheidend für ihre Inspiration ist dabei seit jeher der enge Austausch mit Künstlerinnen und Künstlern, den sie als ihren Nektar bezeichnet hat.
Der Erfolg der zeitgenössischen Kunst
Doch fällt Curigers Karriere auch in eine Zeit, in der sich die Kunstwelt stark gewandelt hat. Sie ist heute ein globales Business, Museen für zeitgenössische Kunst wurden allerorten gegründet. Als ich die Biografie Curigers verfasste, war es für mich wichtig, nicht nur die Leistung einer Kuratorin – neben all den gefeierten Männern in diesem Geschäft – zu würdigen, sondern auch diesen Kontext des Schaffens von Curiger zu beleuchten.
Heute zeigen sich auch die problematischen Aspekte der Erfolgsgeschichte der zeitgenössischen Kunst, an der Szeemann und Curiger Anteil hatten, auch wenn sie vieles davon nicht beabsichtigt hatten: die Bedeutung von Geld und Besucherzahlen, das Verschwinden von Kunstkritik in den Zeitungen. Curiger war immer eine genaue Beobachterin des Kunstgeschehens, ebenso hat sie die Rolle von Künstlerinnen, der Kunstkritik und der Museen hinterfragt.
So zog sie 2020 im Katalog der Ausstellung, die ihren frühen Ausstellungen «Frauen sehen Frauen» und «Saus und Braus» gewidmet war, eine skeptische Bilanz: «Ist die Kunst heute zu stark im Würgegriff von Kommerz und Professionalisierung? Wir alle sind Teil einer einzigen grossen Industrie.» Nichtsdestotrotz bleibt sie fest davon überzeugt, dass die Kunst, weiterhin widerständiges Potenzial und die Kraft hat, Bestehendes und scheinbar Selbstverständliches neu zu sehen.
Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn meint dazu: «Man muss wach und aufmerksam sein, um die geheimen, wundersamen Verbindungen und Verknüpfungen wahrzunehmen, die Bice in ihren Ausstellungen suggeriert. Ihre Ausstellungen sind ein Appell und eine Herausforderung der Kunst mit allen Sinnen zu begegnen, sich zu implizieren und dabei seine Souveränität, seine eigene Sicht auf die Dinge zu behalten.»
Dora Imhof, C is for Curator. Bice Curiger – eine Arbeitsbiografie, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 2022, 404 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.
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