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«La fille de nulle part» gewinnt goldenen Leoparden

Der Regisseur Jean-Claude Brisseau und die Hauptdarstellerin des Films "La fille de nulle part", Virginie Legeay. Festival del film Locarno

Der Regisseur Jean-Claude Brisseau hat an der 65. Ausgabe des Filmfestivals den goldenen Leoparden gewonnen. Kritiker ziehen eine gemischte Bilanz der dritten Filmschau unter Olivier Père. Das Programm auf der Piazza Grande vermochte sie nicht zu überzeugen.

Dass der goldene Leopard an den Film «La Fille de Nulle part» des französischen Regisseurs Jean-Claude Brisseau gegangen ist, hat die Kritiker etwas erstaunt.

«Auch wenn das Werk, mit Laienschauspielern und einem reduzierten Budget realisiert, interessant ist, finde ich es etwas erstaunlich, dass das Festival Locarno einen Veteranen der 68er-Generation mit einer langjährigen künstlerischen Laufbahn honoriert, wenn es doch zuallererst ein Festival der Entdeckungen sein will», sagt Antoine Duplan, Filmkritiker bei der Westschweizer Tageszeitung Le Temps.

Auch Antonio Mariotti vom Corriere del Ticino ist etwas perplex: «Es ist sicher keiner jener Filme, die in den Herzen des Publikums geblieben sind. Aus dem Verdikt der Jury ist keine klare cineastische Linie ersichtlich, was etwas enttäuschend ist.»

Der Gewinnerfilm erzählt die Geschichte von Michel, einem verwitweten, pensionierten Mathematikprofessor, der seine Tage damit verbringt, einen Essay über Volksglauben im Alltag zu schreiben. Eines Tages findet er Dora vor seiner Haustüre, eine junge Obdachlose, die verletzt ist. Er nimmt sie bis zu ihrer Genesung bei sich auf. Doch dann beginnen mysteriöse Ereignisse seine Wohnung heimzusuchen.

Identität gefunden

Ausser der Kritik an der Auswahl des Siegerfilms aber hat das Festival die Filmkritiker überzeugt. In der dritten Ausgabe des Festivals, das Olivier Père als künstlerischer Leiter organisiert hat, scheint er es geschafft zu haben, eine Marke zu setzen.

In seiner artistischen Auswahl «merkt man, dass er ein 360-Grad-Kinofan ist, sagt Mariotti. «Einerseits legt er grossen Wert auf die Kinogeschichte – wie das die schönen Retrospektiven dieses Jahr gezeigt haben –, andererseits beweist er eine grosse Offenheit, indem er allen möglichen Genres Platz bietet.»

«Olivier Père hat einen neuen Esprit nach Locarno gebracht», sagt Filmkritiker Florian Keller, der für den Tages-Anzeiger über das Festival berichtet hat. «Im Diskurs, wie man über Kino spricht und wie man dieses dem Publikum vermittelt, finde ich ihn intellektuell sehr überzeugend. Mit Olivier Père ist aber keine neue Ära angebrochen, kein Paradigmenwechsel.»

Radikaler in seinem Urteil ist Ugo Brusaporco von La Regione Ticino: «Olivier Père hat dem Festival wieder eine starke Identität gegeben. Er hat eine ausserordentliche Diskussion über die Sprache des Autorenkinos eröffnet. Die Filme im Wettbewerb werfen die Idee des erzählenden Kinos über Bord, zu Gunsten der formalen und thematischen Suche. Es gelingt ihnen aber, Emotionen zu schaffen und zu überzeugen.»

Europäer überzeugten

19 Filme wurden dieses Jahr im internationalen Wettbewerb gezeigt. «Ich fand mindestens die Hälfte davon interessant», sagt Mariotti. «Dabei sind mir besonders die europäischen Autoren aufgefallen, aber auch das unabhängige US-Kino hat ein gutes Niveau erreicht. Aus Asien und dem Rest der Welt hingegen sind keine besonders berührenden Werke gekommen.»

Eine Meinung, die auch Keller teilt: «Von jenen Filmen, die ich gesehen habe, war ich dieses Jahr positiv überrascht, auch wenn ich nicht den gesamten Wettbewerb gesehen habe. Ich habe den Eindruck, dass der Wettbewerb an Profil gewonnen hat.»

Für Alessandra Levantesi von der italienischen La Stampa hat Olivier Père «bei der Filmauswahl zwischen Dokumentarfilm und Fiktion eine gewisse Geschmacksraffinesse und viel Mut gezeigt».

Etwas kühler bilanziert Antoine Duplan den Wettbewerb: «Die Qualität der Filme war sehr unterschiedlich. Von den US-Regisseuren hatte ich mehr erwartet, doch ihre Filme waren wenig spritzig oder zynisch, mit jungen, unreifen Erwachsenen. Ich hatte, ehrlich gesagt, teilweise das Gefühl, dass ich im Kinosaal meine Zeit verplempere.»

Filme, die blieben

Einen Weg ins Herz von Duplan, wie auch von Mariotti, haben drei Filme gefunden: «Ich mochte ‹Leviathan› von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor sehr», so der Kritiker von Le Temps. «Es ist ein innovativer Dokumentarfilm, gedreht mit Dutzenden vom Mikrokameras, der den schwierigen Alltag der Fischer erzählt. Es sind unglaubliche Bilder und Töne.»

Auch «The End of Time» des schweizerisch-kanadischen Regisseurs Peter Mettler hat die Kritiker überzeugt: «Ein metaphysisches Gedicht auf die Zeit, ein Mantra, ein formal ausgezeichneter, intellektuell sehr reicher Film», schwärmt Duplan.

Dazu kommt der österreichische «Der Glanz des Tages» von Tizza Covi und Rainer Frimmel über das Zusammentreffen eines alten Künstlers und einer jungen Schauspielerin, seiner Nichte. Walter Saabel hat für die Darstellung des Künstlers den Preis für den besten Hauptdarsteller erhalten.

Allerdings habe es im Wettbewerb auch zwei grosse Enttäuschungen gegeben, sagt Mariotti: «Der Schweizer Film ‹Image Problem› von Simon Baumann und Andreas Pfiffner ist sehr tendenziös, unreif und ethisch an der Grenze. Auch der italienische Film ‹Padroni di casa› von Edoardo Gabbriellini hat mich nicht überzeugt. Auch wenn Olivier Père es geschafft hat, eine sympathische und grosszügige Persönlichkeit wie Gianni Morandi auf die Piazza Grande zu holen, liessen Inszenierungs-Niveau und Storytelling zu wünschen übrig.»

Viele Preise, wenig Qualität

Olivier Père hat es auch dieses Jahr wieder geschafft, grosse Namen auf die Piazza Grande zu holen. «Dass man dem roten Teppich etwas an Gewicht gibt, heisst noch lange nicht, dass man andere Festivals nachäffen will», kommentiert Antonio Mariotti.

Doch dieses Jahr seien viel zu viele Preise vergeben worden und die Gäste seien etwas zu «bejahrt» gewesen, auch wenn ihre Karrieren wichtig für die Filmgeschichte gewesen seien. Kritikpunkte, die auch Florian Keller vom Tages-Anzeiger teilt.

Zudem führt die Zusammenstellung der Abendfilme auf der Piazza bei einigen Filmkritikern zu Kopfschütteln. So gibt Brusaporto zu bedenken, ein wichtiger Film über Sterbehilfe sollte nicht am gleichen Abend wie eine Komödie gezeigt werden. Dieser Meinung ist auch Duplan: «Die Piazza kann dem Publikum besseres bieten als vulgäre und gewalttätige Filme von mittlerer Qualität.»

Trotzdem zieht Duplan eine positive Bilanz der Schweizer Präsenz auf der Piazza Grande. Der Dokumentarfilm «More than Honey» von Markus Imhoof sei schlicht grandios, nicht schlecht auch «Nachtlärm» von Christoph Schaub. Leichtere Kost sei «Das Missen Massaker» von Michael Steiner. «Mit Ausnahme von ‹Image Problem› zeigten die Schweizer Filme eine gewisse Vitalität und Qualität des hiesigen Schaffens.»

Goldener Leopard

«La fille de nulle part» von Jean-Claude Brisseau, Frankreich

Spezialpreis der Jury

«Somebody Up There Likes Me» von Bob Byington, USA

Beste Regie

Ying Liang für «Wo Hai You Hua Yao Shuo» («When Night Falls»), Südkorea/China

Beste Hauptdarstellerin

An Nai in «Wo Hai You Hua Yao Shuo»

Bester Hauptdarsteller

Walter Saabel in «Der Glanz des Tages» von Tizza Covi und Rainer Frimmel, Österreich

Publikumspreis Piazza Grande

«Lore» von Cate Shortland, Deutschland/Österreich/Grossbritannien

Cineasti del Presente

«Inori» von Pedro González-Rubio, Japan

Pardi di domani, Kurzfilm international

«The Mass of Men» von Gabriel Gauchet, Grossbritannien

Pardi di domani, Kurzfilm national

«Radio-Actif» von Nathan Hofstetter, Schweiz

(Mitarbeit: Christian Raaflaub)

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