Lässt sich der Gletscherschwund mit Beten bannen?
Hat Gott das Gelübde erhört? Seit 331 Jahren wurde in den Oberwalliser Gemeinden Fiesch und Fieschertal dafür gebetet, dass der Aletschgletscher nicht mehr wächst. Nun wollen die Gläubigen das Gelübde der heutigen Situation anpassen.
Es gab eine Zeit, in der der Aletschgletscher wuchs und wuchs. Er rückte bedrohlich nahe ans Dorf heran. Dazu kamen die Ausbrüche des Märjelensees. 35 Mal brach der Eisstausee im 17. Jahrhundert oberhalb von Fiesch aus.
1678 legten die Bewohnerinnen und Bewohner von Fiesch und Fierschertal ein Gelübte ab, in dem sie vor Gott und der Welt kund taten, fortan tugendhaft zu leben und brav zu beten, dass der Gletscher sein Wachstum einstelle. Sie hielten einmal pro Jahr eine mehrstündige Prozession im Ernerwald ab, um gegen das Wachstum des Gletschers zu beten. Die Prozession fand am Tag des Gründers des Jesuitenordens, dem Heiligen Ignatius von Loyola, am 31. Juli statt.
Pfarrer Johann Joseph Volken, ein Vorfahre des heutigen Regierungsstatthalters Herbert Volken leitete 1678 das Gelübde seiner Gemeinde an die nächste kirchliche Instanz weiter, den Bischof von Sitten. Von dort aus gelangte es an den Nuntius der römisch-katholischen Kirche der Schweiz in Bern, der es dem Vatikan zur Absegnung unterbreitete. Papst Innozent segnete das Gelübde ab.
Kulturelle Strategien gegen Gletschergefahren
Die vom Institut «Alpiner Raum» der Universität Insbruck 2008 veröffentlichte Publikation «Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren» erklärt, worum es bei der so genannten «Gletscherbannung» ging. Bedrohungen durch die Natur wie Gletscherabbrüche, Gletschersee-Ausbrüche oder Murgänge wurden als Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten interpretiert.
Das erklärt, warum die Bewohner und Bewohnerinnen von Fiesch und Fieschertal Gott Tugendhaftigkeit versprachen.
«Gletscherbannungen» sind aus dem ganzen Alpenraum bekannt. Auch das Aufstellen von so genannten «Gletscherkreuzen» zeugt vom den Versuchen, die Gletscher zu bändigen.
1862 wurde das Gelübte der Fiescher und Fieschtaler noch verstärkt: Die Prozession wurde zweimal jährlich durchgeführt.
Gletscher schmilzt weg
Heute aber schmilzt der Gletscher in rasantem Tempo weg. Nach der Interpretation des Regierungstatthalters Herbert Volken wurde das Gelübde erhört. Er meint dazu: «Offenbar hat das Gebet der Gläubigen genutzt. Der Gletscher ist in den letzten Jahren nach dem Hoch von 1865 stark, zu stark, zurückgegangen. Natürlich halfen dabei auch die Klima-Faktoren wie die Industrie, Heizung in den Häusern, Autos auf den Strassen und Flugzeuge am Himmel durch CO2-Ausstoss mit».
Deshalb war kürzlich nun den Medien zu entnehmen, dass der Fiescher Dorfpfarrer Pascal Venetz an einem Schreiben für den Papst arbeite. Es wird wieder über den Bischof via Nuntiatur an den Vatikan gelangen. Statt für den Rückgang soll nun für das Anwachsen gebetet werden dürfen.
Volken sagt dazu: «Wir haben über Jahrhunderte für den Gletscherrückgang gebetet. Jetzt möchten wir dem Gelübde ein neues Ziel geben: Der Gletscher soll nicht mehr weiter schmelzen, sondern er muss wachsen. Für diese Gelübde-Änderung allerdings brauchen wir die Zustimmung des Heiligen Vaters in Rom».
Klimawandel in der Osterbotschaft
Volken ist überzeugt, dass er bei Papst Benedikt XVI Gehör finden wird.»In seiner diesjährigen Osterbotschaft hat das Oberhaupt der katholischen Kirche den Klimawandel angesprochen. Das Thema ist weltweit brandaktuell.»
Waren es beim Gelübde von 1678 existenzielle Gründe, die konkrete Bedrohung der Dörfer durch das Gletscherwachstum und Seeabbrüche, sind es nun wirtschaftliche Gründe, die zur Veränderung des Gelübdes führten.
Über 400’000 Übernachtungen zählt das 1000-Seelen Dorf Fiesch pro Jahr. Die Gäste würden nicht mehr kommen, wenn der Gletscher als Touristenattraktion nicht mehr da wäre, darüber ist sich der Regierungsstatthalter im Klaren: «Diese Besucher haben unter anderem ein klares Ziel: Sie kommen, um den mächtigsten Eisstrom in den Alpen, den Grossen Aletschgletscher zu bewundern.»
An schönen Sommertagen fahren über 2500 Touristen von Fiesch aus mit der Seilbahn auf das Eggishorn. Von dort aus haben sie eine herrliche Ausschicht auf die einmalige Bergwelt mit den vielen Viertausendern und den grossen Aletschgletscher.
«Wenn der Gletscher wegschmilzt, haben wir keine Lebensgrundlage mehr. Tourismus und Wasser – davon leben wir. Tourismus ist unsere einzige Einnahmequelle. Wenn der Tourismus in Fiesch nicht floriert, sind wir schlecht dran», sagt Volken. In der Region existiere zwar ein gesundes Gewerbe, aber es sei bescheiden und klein und hänge sehr eng mit dem Tourismus zusammen.
Audienz im Herbst?
Vielleicht lässt sich auch der Gletscherwund mit Beten bannen. Die Fiescher und Fieschertaler hoffen, noch in diesem Herbst eine Audienz bei Papst Benedikt XVI. zu erhalten. Sie sind zuversichtlich, dass der Heilige Vater in ihrem Sinne entscheiden wird.
Sollte es tatsächlich zu einer Audienz der Fiescher in Rom kommen, hat Initiant Herbert Volken noch einen Plan auf Lager, der sicherlich einen riesigen PR-Effekt hätte. «Ich werde den Papst zu einem Besuch auf dem Aletsch-Gletscher einladen. Als patentierter Bergführer werde ich ihn natürlich persönlich begleiten».
Eveline Kobler und Geraldo Hoffmann, swissinfo.ch
Es sei in der neueren Literatur mehrfach und immer wieder bestätigt, schreibt Volkskundler Hans Haid in «Gletscherbannungen, Bittgänge, scharfe Gelübde, Kinderprozessionen zum Ferner», dass in der so gennanten «kleinen Eiszeit», die von 1590 bis 1850 dauerte, eine rasante Zunahme des Hexenwesens vermeldet wurde. In den stark vergletscherten Alpenregionen Gletschersee-Ausbrüche und und Extrem-Wasserschäden «Wettermachern» und «Hexern» zugeschrieben wurden.
Prozessakten von 1679 aus dem Zillertal belegen dies: Ein Mann namens Thomann Jöchel, der als «Wettermacher» vor Gericht stand, wurde angelastet, er habe den Ausbruchbruch des Fischbachs, der vom Gletscher Vernagtferner gestaut wurde, verursacht. Er und zwölf andere Angeklagte wurden für schuldig befunden und hingerichtet.
Der Artikel ist in der Publikation «Ist es der Sindtfluss?
Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren» des Instituts «Alpiner Raum» der Universität Insbruck erschienen.
Fieschertal ist eine politische Gemeinde des Bezirks Goms im deutschsprachigen Teil des Kantons Wallis in der Schweiz.
Fieschertal liegt unterhalb des Fieschergletscher am Ende des Tales und war bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhundert von Fiesch aus nur zu Fuss erreichbar.
Fieschertal ist mit 17’295 ha flächenmässig eine der grössten Gemeinden der Schweiz, wobei 15’966 ha im Weltnaturerbegebiet liegen. Das Gemeindegebiet reicht im Norden bis zum Jungfraujoch.
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