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Le Corbusiers Punjab-Album zeigt Indiens Weg in die Moderne

Kricketspiel vor dem Capitol Complex von Le Corbusier in Chandigarh
Kricketspiel vor dem Capitol Complex von Le Corbusier in Chandigarh. Alamy Stock Photo/Credit: Jeremy Horner / Alamy Stock Photo

Städtische Räume in Indien spiegeln Jahrhunderte kolonialer Invasion und Herrschaft wider. Die Veröffentlichung einer Faksimile-Edition der Skizzenbücher des Schweizer Architekten Le Corbusier zur Planung der Stadt Chandigarh in den 1950er-Jahren ist eine Momentaufnahme jenes Augenblicks, in dem Indien aufbrach, seine eigene Zukunft zu gestalten.

Indien, die Wiege einiger der ältesten Zivilisationen der Welt, erlangte 1947 seine Unabhängigkeit vom britischen Empire.

Nach dem Trauma der Teilung im selben Jahr, die zur Gründung Pakistans führte und bis zu zwei Millionen Tote und 18 Millionen Vertriebene zur Folge hatte, wollten die Führer des neuen Indien die «grösste Demokratie der Welt» in die Zukunft führen. Auch, indem sie ihre Architektur neu gestalteten.

Das war es, was Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, im Sinn hatte, als er 1951 den weltbekannten Schweizer Architekten Le Corbusier einlud, einen Plan für die Hauptstadt des neu gegründeten Bundesstaats Punjab zu entwerfen. Diese Region war zuvor in zwei Hälften geteilt worden.

Le Corbusier studiert eine Karte auf der Motorhaube eines Jeeps
Le Corbusier studiert eine Karte auf der Motorhaube des Jeeps, mit dem er die Gegend um Chandigarh erkundet. Pierre Jeanneret. Mit freundlicher Genehmigung des Canadian Centre for Architecture (CCA), Geschenk von Jacqueline Jeanneret.

Zu diesem Zeitpunkt war Le Corbusier bereits eine Ikone der modernistischen Architektur und Kunst. Doch der Bau der Stadt Chandigarh stellte eine unüberwindbare Herausforderung dar. Schliesslich handelte es sich um eines der ehrgeizigsten Experimente der modernen Stadtplanung und Architektur des 20. Jahrhunderts.

Der modernistische Anspruch

Le Corbusier plante, eine neue, modernistische Stadt aus dem Boden zu stampfen, mit voll ausgestatteten Wohnungen, Regierungsgebäuden, Kinos und Schulen.

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Ein Jahrzehnt später folgte ein ähnliches Projekt: der Bau der brasilianischen Hauptstadt Brasilia, entworfen von Oscar Niemeyer, Le Corbusiers jüngerem Partner beim Projekt des UNO-Gebäudes in New York (1948-52).

Während seiner ersten Wochen in der Region, in der die Stadt entstehen sollte, führte Le Corbusier ein Notizbuch, in dem er seine schriftlichen oder skizzenhaften Notizen und persönlichen Überlegungen sowie die Notizen und schematischen Lösungen festhielt, die er bei seinen Treffen mit den örtlichen Behörden und Stadtplanern entwickelt hatte.

Skizzen und Notizen von Le Corbusier
Skizzen und Notizen von Le Corbusier aus den ersten Wochen seines Indienaufenthalts vom 21. Februar bis 1. April 1951. 2024 Lars Müller Publishers, Fondation Le Corbusier, Paris

Seit den 1950er-Jahren wurden unzählige Studien über die Entwicklung von Chandigarh veröffentlicht. Aber über die Anfangsphase der Stadtplanung ist nur sehr wenig bekannt.

Le Corbusiers Punjab-Album, das in der Fondation Corbusier in ParisExterner Link aufbewahrt wird, ist eine wichtige Quelle, um die Probleme zu rekonstruieren, mit denen das kleine Team von Architekten und Regierungsbeamten konfrontiert war, das den Entwurf für Chandigarh in nur wenigen Tagen entwickelte.

Es ist auch eine bemerkenswerte Aufzeichnung der lokalen Umgebung, die Le Corbusier auf seinen Reisen durch die Region aufnahm.

Chandigarh ist nicht die einzige Spur, die der Schweizer Architekt in Indien hinterlassen hat. Auch in anderen nordindischen Städten wie Ahmedabad hat Le Corbusier architektonische Projekte in Angriff genommen, die allerdings diskreter ausfielen.

In Ahmedabad, seit dem frühen 15. Jahrhundert ein Zentrum des Textilhandels, gab es 70 über die Stadt verstreute Textilfabriken, als Le Corbusier Anfang der 1950er-Jahre beauftragt wurde, ein repräsentatives Gebäude für die Vereinigung der Fabrikbesitzer zu entwerfen.

Das zwischen 1952 und 1954 errichtete Gebäude diente dem Verband fast 60 Jahre lang, obwohl Teile davon in den 1990er-Jahren baufällig geworden waren.

Die Überwindung der Kolonialisierung

Hinter der Einladung Nehrus stand die bewusste Absicht, die Spuren zu beseitigen, welche die britische Kolonialherrschaft im ganzen Land hinterlassen hatte, vor allem aber in den grossen Städten.

Kolkata (früher Kalkutta) wurde von der Ostindien-Kompanie gegründet: Die ersten Aufzeichnungen über die Gründung der Siedlung stammen aus dem Jahr 1690, obwohl Ausgrabungen in der Gegend gezeigt haben, dass der Ort, an dem sich die Stadt befindet, seit mehr als 2000 Jahren besiedelt ist.

Mumbai (früher Bombay) wurde vom 18. Jahrhundert bis zur Unabhängigkeit grundlegend von britischen Architekten umgestaltet und weist heute noch grosse Teile neoklassizistischer und viktorianisch-gotischer Gebäude auf.

Für manche ist Mumbai die am stärksten vom viktorianischen Stil geprägte Stadt der Welt, mehr als jede andere britische Stadt.

Auch das alte und das neue Delhi wurden von eindringenden Mächten gestaltet. Die Fundamente des heutigen Alt-Delhi wurden im 13. Jahrhundert von muslimischen Eroberern gelegt, später folgten die Mogulkönige aus Zentralasien.

Delhi wurde 1803 von den Briten annektiert und 1931 zur Hauptstadt des Kronjuwels des Empires erklärt, wobei die Kolonialmacht das Stadtbild völlig neu gestaltete.

Die Einladung an westliche Architekten und Planer, im gerade unabhängig gewordenen Indien Gebäude und Städte zu entwerfen und umzugestalten, könnte heute als ein weiterer Schritt der kulturellen Kolonisierung des Landes betrachtet werden. Damals war es jedoch eher ein ehrgeiziger Versuch, Indien in die verheissungsvolle Moderne zu führen.

Verschiedene Skulpturen an einer Wand
Workshop der Hochschule für Architektur von Le Corbusier und Aditya Prakash. Eric Lafforgue / Alamy Stock Photo

Le Corbusier übernahm diese Vision und versuchte, die indische Realität mit ihren uralten Überlebenstechniken, Philosophien und Glaubensvorstellungen mit dem modernistischen Rahmen zu verbinden.

«Es wird eine Stadt der Bäume sein», schrieb er in einem Brief an seine Frau. «Von Blumen und Wasser, von Häusern, die so einfach sind wie zu Homers Zeiten, und von einigen prachtvollen Bauten der höchsten Stufe des Modernismus, in denen die Regeln der Mathematik herrschen werden.»

Le Corbusier konzipierte den Masterplan von Chandigarh in Analogie zum menschlichen Körper: «Kopf» (Kapitolkomplex), «Herz» (Stadtzentrum), «Lunge» (Freiräume), «Intellekt» (Schulen), «Kreislauf» (Strassennetz) und «Eingeweide» (Industriegebiet).

Das Konzept der Stadt basiert auf vier Hauptfunktionen: Wohnen, Arbeiten, Versorgung von Körper und Geist und Verkehr.

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Der grösste Teil der Stadt wurde Anfang der 1960er-Jahre fertiggestellt. Für das Projekt mussten mehr als 20’000 Menschen aus 58 Dörfern umgesiedelt werden.

Architektonisches Schlachtfeld

Der innovative Geist, den Le Corbusier und andere westliche Architekten Mitte des 20. Jahrhunderts nach Indien brachten, steht in krassem Gegensatz zum heutigen architektonischen Schlachtfeld.

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2014 hat Premierminister Narendra Modi eine hindu-nationalistische Agenda vorangetrieben, indem er eine indische Version der westlichen «Kulturkriege» inszenierte.

Seine Vision zielt darauf ab, die politische Opposition einzudämmen und die riesige muslimische Minderheit – etwa 213 Millionen Menschen oder 15% der Bevölkerung – zu bevormunden.

Diese nationalistische Welle konzentriert sich auf eine manchmal eingebildete Vergangenheit. Die Beispiele sind zahlreich. Modi setzt sich mit dem kolonialen Erbe auseinander, indem er Strassen und Städte im ganzen Land umbenennt.

In Delhi ist sein Plan zur Umgestaltung der Central Vista ein Vorzeigeprojekt, das die Architektur der indischen Hauptstadt neu gestalten soll. Dazu will er das Gebiet der Denkmäler und Regierungsgebäude aus der britischen Ära renovieren lassen.

Gleichzeitig wird der Bau und die Renovierung von Hindu-TempelnExterner Link offen als Teil seiner Bemühungen um die Schaffung eines «Neuen Indiens»Externer Link verkündet – einer Vorstellung von «einem Land, das in der Lage ist, sein altes Erbe zu bewahren und seinen spirituellen und kulturellen Ruhm wiederherzustellen, während es gleichzeitig in Richtung seiner modernen Bestrebungen voranschreitet».

Ein neuer Streitpunkt ist die Suche nach den Überresten der mythologischen Stadt Indraprastha, die unter der Stadt Delhi liegen soll.

Schichten über Schichten antiker Siedlungen wurden ausgegraben, aber bisher wurde keine Spur der legendären Stadt gefunden. Sie wird im Gründungsepos Mahabharata erwähnt, das um das 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verfasst wurde.

Inzwischen zeigen viele modernistische Meilensteine aus den ersten Jahren der Unabhängigkeit deutliche Zeichen des Verfalls. Sie stehen für den verblassenden Nachhall ihrer ursprünglichen Vision.

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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