Libyen entdeckt den Film als Waffe für den Frieden
Nach dem Sturz von Gaddafi sucht Libyen einen Ausweg aus der tiefen politischen Krise, in die das Land versunken ist. Zwei Regierungen und zahlreiche Gruppierungen spalten das Land und streiten sich um die Macht. Während in Genf Bemühungen um neue Friedensverhandlungen im Gang sind, haben junge libysche Filmemacher unveröffentlichte Bilder aus ihrem Land nach Locarno gebracht, Bilder, die bereits als historische Dokumente betrachtet werden müssen.
«Natürlich ist es riskant, in Libyen Dokumentarfilme zu drehen, doch wir sind es uns mittlerweile in einem gewissen Sinn gewohnt, mit dem Feuer zu spielen. Die Schwierigkeit besteht darin, Tabuthemen mit Intelligenz und Kreativität aufzugreifen, ohne sie direkt anzusprechen, um die Gesellschaft nicht zu stark zu provozieren.»
Muhannad Lamin ist 25-jährig, sein Blick ist eindringlich und die Stimme energisch. Er wurde in Tripoli geboren und gehört zu einer neuen Generation von Filmemachern, die nach dem Sturz des Regimes von Muammar Gaddafi in Erscheinung tritt. Der Tod des Diktators 2011 beendete 42 Jahre Diktatur und Schweigen.
In diesem post-revolutionären Kontext beschloss das «Scottish Documentary Institute», sich in ein etwas verrücktes Abenteuer zu stürzen, nämlich rund 20 libyschen Jugendlichen durch eine Reihe von Workshops die Kunst des Dokumentarfilms zu vermitteln. So erzählte Muhannad Lamin in seinem Kurzfilm «80» (2012) von einem Freund, der in einem der berüchtigten Gefängnisse Gaddafis landete, «aus denen man nicht wieder rauskommt, weder tot noch lebendig.»
Eine Brücke zwischen den Kulturen
«Nach der Revolution hatten die Leute ein grosses Bedürfnis, als Teil dieser Welt wahrgenommen und angehört zu werden. Libyen war zu lange auf dem Radar unsichtbar, und auch heute noch erreichen uns nur die Bilder von Flüchtlingsschiffen oder Bomben. Man könnte sagen, dass Filmemachen nicht erste Priorität hat, doch für uns ist der Dokumentarfilm ein wichtiges Kommunikationsmittel, er ist eine Brücke zwischen den Kulturen», beteuert die Produzentin und Leiterin des schottischen Instituts Noe Mendelle.
In ihren Kurzfilmen erzählen die Jungen von Frauen, Migranten, grossen und kleinen Helden des Alltags und gewähren uns einen neuen Blick auf das Libyen von heute. Eine Auswahl dieser Arbeiten wurde am Filmfestival von Locarno in der Sektion «Open Doors» gezeigt und hat ein grosses Publikum angelockt.
«Es war unglaublich für mich, meinen Film das erste Mal auf der grossen Leinwand zu sehen und die staunenden Blicke der Besucher wahrzunehmen», sagt der 23-jährige Autor Najmi Own etwas aufgeregt. Sein Kurzfilm handelt – wohl nicht ganz zufällig – von den Schwierigkeiten, einen Film zu drehen (“Mission Impossible”, 2015).
Im Unterschied zu anderen nordafrikanischen Ländern wie Ägypten und Tunesien, hatte Libyen nie eine Filmindustrie, und die Filme, die im Land produziert wurden, kann man an einer Hand abzählen. Unter dem Gaddafi-Regime wurden alle Kinosäle abgerissen und in den Läden gab es nur DVDs der neuesten Blockbusters zu kaufen. Die Bevölkerung ist deshalb nicht gewohnt, eine Videokamera zu sehen und hat Angst, ausspioniert zu werden, erklärt Muhannad Lamin.
Doch die Entdeckungslust ist gross. 2012, als in Tripoli das erste Filmfestival organsiert wurde, waren die Leute begeistert. “Heute ist die Situation jedoch anders. Die Leute sind mit dem Überleben beschäftigt. Es gibt keinen Strom, die Leute werden nicht bezahlt, Essen fehlt. Dazu die Unsicherheit, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringt. Ins Kino zu gehen ist ein Luxus, den sich niemand leisten kann”, bekräftigt Muhannad Lamin.
Die Workshops des Scottish Documentary Institute erstreckten sich über drei Jahre. Noe Mendelle konnte so mit eigenen Augen die Entwicklung des Landes mitverfolgen: vom post-revolutionären Enthusiasmus zum heutigen Chaos mit zwei Regierungen und rund zehn Gruppierungen, die sich um die Macht streiten. “Am Anfang reisten wir ganz frei mit dem Taxi herum, in den letzten Monaten fuhren wir in einem gepanzerten Wagen mit abgedunkelten Scheiben”.
“Die Situation in Libyen ist dramatisch», pflichtet auch Regisseur Kelly Ali bei. «Während der Gaddafi-Ära gab es keinen Staat, keine Verwaltung, keine Zivilgesellschaft. Heute herrscht ein Vakuum, wir müssen lernen, zusammenzuleben und das Land wieder aufzubauen.»
Der 32-jährige Kelly Ali, Chef eines KMU, ist der einzige, der eine Frau als Protagonistin für seinen Film gewählt hat, und das in einer immer noch von Männern dominierten Gesellschaft («Land of Men», 2015). «Schon nur die Idee, einen Film über eine Frau machen zu wollen, war unter dem Gaddafi-Regime undenkbar. In einem gewissen Sinn ist es bereits ein Fortschritt, dass uns das gelungen ist.»
Noe Mendelle versuchte vergeblich, Frauen für ihren Workshop zu finden. Die zwei einzigen Interessentinnen haben schon bald aufgegeben. «Die Lebenssituation der Frauen in Libyen ist wirklich schwierig, berichtet Kelly Alil. Während der Revolution hatten sie eine wichtige Rolle inne und hofften auf eine gesellschaftliche Wandlung. Aber heute, nach einer Phase des Aufschwungs, sind die Menschenrechte am Schwinden. Den Höhepunkt der Freiheit haben wir 2013 erreicht, jetzt geht’s wieder abwärts. Jeder Revolution folgt jedoch eine chaotische Phase, ich bleibe ein ewiger Optimist.»
Die Produzentin Noe Mendelle ist der Meinung, dass die Bevölkerung noch nicht bereit ist, sich mit diesen Bildern zu konfrontieren, obschon einige der Filme bereits historische Dokumente sind. «Ich bin nicht sicher, ob die Libyer diese Dokumentarfilme schätzen würden. Weil sie auf ganz einfache Art Alltagsszenen erzählen, sind sie vielleicht zu gewöhnlich im Vergleich zum Spektakel der amerikanischen Filme und TV-Serien, die die Leute gewohnt sind.»
«Diese Kurzfilme reflektieren das Libyen von heute, doch es braucht Zeit und Distanz, damit die Menschen sie verstehen und schätzen. Für die Macher und für uns, die nicht wissen, was in diesem vergessenen Land passiert, sind sie jedoch fundamental.»
Unabhängiges Filmschaffen fördern
Mit der Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) will «Open Doors» Regisseure aus Regionen des Südens und des Ostens der Welt, dort, wo das unabhängige Filmschaffen nicht existiert oder noch sehr fragil ist, unterstützen und eine Plattform bieten. Während des Filmfestivals Locarno können die jungen Filmemacher Ausbildungskurse besuchen und andere Berufskollegen aus dem Filmsektor kennenlernen sowie mögliche Käufer ihrer Filme treffen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)
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