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Lina Bögli: Reisend dem Glück entgegen

Lina Bögli sitzt am Schreibtisch.
"'Vorwärts' soll von nun an mein Losungswort sein!", schreibt Lina Bögli in ihrem Tagebuch. Ihr späterer Reisebericht mit dem gleichnamigen Titel wurde ein Erfolg. Zentrum Lina Bögli

Lina Bögli erwartete in der Schweiz ein Dasein als arme Bauernmagd. Sie trat die Flucht nach vorne an und erkämpfte sich ein unabhängiges Leben fernab der Heimat. Die Beschreibung ihrer zehnjährigen Weltreise wurde ein Erfolg.

Als Lina Bögli im Juli 1892 am Hafen von Triest auf den Dampfer wartet, mit dem sie das erste Stück ihrer Weltreise absolvieren soll, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Noch wäre es nicht zu spät, den ganzen Unsinn abzublasen und den Heimweg einzuschlagen.

In der Schweiz wusste ohnehin niemand um ihre Pläne, sie hätte keinen Spott zu befürchten. Da nennt ihr der Beamte den Namen des Dampfers, mit dem ihre geplante zehnjährige Reise eingeläutet werden sollte: «Vorwärts.» Ihre Angst verfliegt im Nu.

Zentrum «Lina Bögli»

Das neue Zentrum Lina Bögli Externer Linkwird am 11. Mai eingeweiht. Es befindet sich im Kornhaus Herzogenbuchsee und beinhaltet eine Basis-Ausstellung über das Leben und die Reise der Schriftstellerin. Daneben werden auch weitere starke Frauen aus Böglis Umfeld und Zeit porträtiert und die Frauenbewegung bis in die heutige Zeit nachgezeichnet.

«Das Meer erschreckt mich nicht mehr, die fremde Menschenmenge schüchtert mich nicht mehr ein, ich fühle mich mit neuem Mut begeistert, denn ich glaube ganz bestimmt, dass Gott mir in diesem entscheidenden Augenblick seinen Befehl geschickt hat, vorwärts zu gehen. Mir scheint, als ob ich mich vor nichts mehr fürchten könnte, und ganz gewiss werde ich nicht mehr zögern. Vorwärts soll von nun an mein Losungswort sein!»

Bögli ist zu diesem Zeitpunkt bereits 34 Jahre alt und hat schon fast ihr halbes Leben ausserhalb der Schweiz verbracht. Ihr neues Unterfangen flösst ihr dennoch Respekt ein, denn Geld hat sie gerade mal genug um die erste Reiseetappe zu finanzieren. Von Italien geht es über das Rote Meer und Sri Lanka nach Australien, wo sie mit fünf Pfund in der Tasche ankommt und schnell Arbeit finden muss.

Später über Neuseeland, Samoa und Hawaii quer durch den ganzen Pazifik nach Amerika, das sie von West nach Ost bereist, hinauf nach Kanada und zurück nach Europa. Auf den Tag genau zehn Jahre später, am 12. Juli 1902 kommt sie im polnischen Krakau an, von wo sie aufgebrochen war, die Welt zu bereisen.

Altes Berner Bauernhaus
In diesem Bauernhof im bernischen Oberaargau wurde Lina Bögli geboren. Aber anstatt ein Leben als Bauernmagd zu verbringen, zieht die mutige Frau in die weite Welt. Zentrum Lina Bögli

Zäh, zielstrebig und selbstbewusst

Von dieser Reise handelt ihr erstes Buch, das natürlich den Titel «Vorwärts» trägt und Böglis grösster schriftstellerischer Erfolg wird. Basierend auf ihren Tagebuchnotizen verfasst sie einen schlau komponierten Briefroman, in dem sie einer Freundin in der Heimat ihr Leben in diesem Jahrzehnt des Reisens um die Welt beschreibt.

Es ist ein langsames Reisen. Bögli hat keine Ersparnisse, sie muss arbeiten, um sich das Leben und das Vorwärtskommen zu finanzieren. Als ausgebildete und mehrsprachige Lehrerin, die zudem lange für eine polnische Fürstenfamilie gearbeitet hatte, ist sie jedoch gut ausgerüstet, um in Privatschulen oder bei reichen Familien Anstellung zu finden.

Ihre Zähigkeit und Zielstrebigkeit hatte sie schon früh bewiesen: Bögli wächst auf in der Oschwand, einem Weiler im bernischen Oberaargau. Die Familie ist arm, die Aussichten trüb. Die kleine Lina weiss schon früh, dass sie Lehrerin werden will, man kann sich die Ausbildung jedoch nicht leisten. Stattdessen wird sie mit zwölf Jahren aus der Schule genommen und als Kindermädchen zu einer Bauernfamilie in den Jura geschickt.

Siebzehnjährig findet sie Arbeit bei einer wohlhabenden Schweizer Familie in Neapel, wo sie Zugang zur Bibliothek erhält und in die Weltliteratur eintaucht. Es folgen acht Jahre in Polen, wo sie das Wesen der hohen Gesellschaft erlernt und genug sparen kann, um sich endlich zur Lehrerin ausbilden zu lassen.

Vorläuferin der Frauenbewegung

Was brachte eine nicht mehr ganze junge Frau dazu, sich ohne ausreichende finanzielle Mittel auf eine Weltreise zu begeben? Sie hatte zwar eine gute Anstellung, aber irgendwann genügte ihr das nicht mehr.

«Uns Frauen sind die Schranken so eng gezogen, dass man sich nicht gehörig rühren kann, ohne dagegen anzuprallen. Ja, ein Mann zu sein, das wäre Freiheit! Was ich wohl tun würde, wenn ich ein Mann wäre? Gewiss grosse Reisen machen, um die Welt und die Menschen kennenzulernen.»

Sie bewies jedoch, dass diese Freiheit auch einer Frau offenstand – wenn sie bereit war, sich diese zu holen. Später unternahm Bögli eine dreijährige Reise durch Asien. Im chinesischen Nanjing bot man ihr einen Lehrstuhl für deutsche und französische Sprache an der ersten Frauenuniversität des Landes an. Zu gross waren jedoch die kulturellen Unterschiede, zu klein mittlerweile die Unternehmenslust. Aus ihrer Zeit in Asien entstand eine Reisereportage, die 1915 unter dem Namen «Immer vorwärts» veröffentlicht wurde.

Lange hielten sich Gerüchte, wonach Bögli diese Reisen nie unternommen hatte und ihre Bücher Fiktion waren. Dass eine Frau, eine arme noch dazu, allein den Globus bereiste, war nicht nur für Zeitgenossen schwer zu glauben. Erst als in den 1990er-Jahren ihre Tagebücher entdeckt wurden, verschwanden die Zweifel.

In diesen Tagebüchern wurde zudem noch eine weitere Erklärung für ihren Aufbruch gefunden: Eine stürmische Liebe mit einem polnischen Offizier, die jedoch zum Scheitern verurteilt war, da die beiden nicht die nötigen Geldmittel hatten, um die von der Armee verlangte Heiratskaution zu hinterlegen. Diese Enttäuschung sollte Böglis Entschluss befeuern.

«Uns Frauen sind die Schranken so eng gezogen, dass man sich nicht gehörig rühren kann, ohne dagegen anzuprallen.»

Unabhängigkeit als Lebensziel

Lina Bögli war zwar eine aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit, aber kein politischer Mensch. Sie störte sich an sozialen Ungerechtigkeiten und auch an der Tatsache, dass sie als Frau weniger mitbestimmen konnte als ein Mann. Sie leitete daraus jedoch keine politischen Forderungen ab. Dennoch wurde sie von der Frauenbewegung als Vorkämpferin betrachtet, denn allein durch ihren Lebensweg durchbrach sie eine ganze Reihe herrschender Konventionen und Tabus.

Zentral für sie persönlich war ihre Unabhängigkeit. Diese bewies sie nicht nur zeitlebens, sondern auch darüber hinaus: Sie sorgte dafür, dass ihre Leichenfeier im Schulhaus in Oschwand stattfand und hatte sogar das Leichenmahl im Wirtshaus organisiert. Auch ihren Grabstein hatte sie vorausbezahlt. Darauf ist eine Taube zu sehen, die über eine Erdkugel fliegt mit der Inschrift: «Vorwärts – Aufwärts.»

Anmerkung: Die Zitate stammen aus dem Buch «Talofa» von Lina Bögli – unter diesem Titel wurde ihr Roman «Vorwärts» neu publiziert.

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