Lionel Baier: «Europa ist die Lösung, nicht das Problem»
In einer intelligenten und poetischen Komödie nimmt Lionel Baier die Nelkenrevolution, die 1974 zum Ende der Diktatur in Portugal führte, zum Anlass, das heutige Europa zu hinterfragen. "Les grandes ondes (à l'Ouest)", der zweite Film einer Tetralogie, wurde am Filmfestival Locarno uraufgeführt.
April 1974: Zwei Journalisten des Westschweizer Radios werden für eine Reportage nach Portugal eingeladen. Julie, eine überzeugte Feministin, und Cuavin, ein bekannter Kriegsreporter, der sein Gedächtnis verloren hat. Begleitet werden sie von Bob, einem Techniker mit seinem treuen VW-Bus, und Pelé, einem jungen Übersetzer.
Erklärtes Ziel ist es mehr oder weniger, ein positives Bild der Schweiz zu vermitteln. Der Vorwand: die helvetische Entwicklungshilfe für Portugal. Der Vorschlag kommt von oben, von ganz oben. Ein namenloser Bundesrat, halb ernsthaft, halb scherzhaft, empfiehlt offenherzig, die Öffentlichkeit nicht mit neuen Streitereien über das Atomkraftwerk Mühleberg oder die Rolle der Schweizer Banken im Zweiten Weltkrieg zu langweilen.
«Wie wärs mit einem Porträt über einen Alphirten? Oder mit einer Reportage über ‹made in Switzerland› in einem weniger entwickelten Land, das aber zumindest sympathisch ist?»
Mit diesem politisch inkorrekten Dialog beginnt die Komödie des Schweizer Regisseurs Lionel Baier, die am Filmfestival von Locarno auf der Piazza Grande ihre Uraufführung hatte. Les grandes ondes (à l’Ouest) ist der zweite Film einer Tetralogie zu vier Hauptpunkten, «einer Art Kartografie der affektiven Beziehungen, welche die europäischen Bürger vereinigen», erklärt der 38-jährige Regisseur.
Es ist ein Film über das Gedächtnis, die Identität und die Wurzeln in einer Zeit, die für den Aufbau Europas entscheidend war. Eine intelligente und erheiternde Komödie, wie man sie in der helvetischen Filmlandschaft seit langem nicht mehr gesehen hat.
Lionel Baier, ein aus Polen stammender Schweizer, wurde 1975 in Lausanne geboren, wo er heute noch lebt.
Mit 12 Jahren begann er, Filme zu drehen. Sein Régiedébut hatte er im Jahr 2000 mit Celui au pasteur (ma vision personnelle des choses), einem Dokumentarfilm, der einem Priester im Kanton Wallis gewidmet war.
Im Jahr darauf dokumentiert er mit La Parade (notre histoire) die erste Gay-Pride im katholischen Kanton Wallis. Mit diesen zwei Filmen, die an zahlreichen Festivals gezeigt wurden, wird Baier einem grösseren Publikum bekannt. Mit Garçon Stupide kam 2004 sein erster Spielfilm ins Kino. 2006 folgte Comme des voleurs (à l’est), der erste Teil der Tetralogie.
Sein dritter Spielfilm Un autre homme (2008) lief im Wettbewerb in Locarno und wurde in Europa und Kanada vertrieben. 2010 realisierte er Low Cost, der ebenfalls in Locarno gezeigt wurde. Im Jahr darauf folgte Toulouse sowie Bon Vent, ein Dokumentarfilm über den Schweizer Regisseur Claude Goretta.
2009 gründet Lionel Baier zusammen mit den Filmschaffenden Ursula Meier, Frédéric Mermoud und Jean-Stéphan Bron das Produktionshaus Band à part Films.
Seit 2002 leitet er zudem das Fach Film an der Ecole cantonale d’art de Lausanne (ECAL).
Mit der Vergangenheit die Gegenwart erforschen
Nachdem sie Portugal durchquert hatten, mit diesen alten nostalgischen Aufnahmegeräten, geben Julie und Cuavin schliesslich auf: denn mit einem Wasserhahn und einem vergilbten Plakat lässt sich keine journalistische Reportage machen. Der Wind der Geschichte trägt sie jedoch mitten hinein in die Nelkenrevolution, die zum Sturz von Salazar führt, nach rund 40 Jahren Diktatur.
Der Film von Lionel Baier ist ein Sprung in die Vergangenheit, die vom Durst nach Demokratie geprägt ist, vom Ende grosser Utopien. Er ist aber auch ein Mittel, um das heutige Portugal, das er als «unerträglich erniedrigt» beschreibt, zu thematisieren, und ebenso seine Vision Europas.
«Seit fünf Jahren spricht man einzig und allein vom Europa in der Krise und vergisst dabei, dass zu Beginn ein starkes Ideal der Einheit bestand, ein Versuch, der verhindern sollte, dass ein weiterer Krieg entsteht. Diese Aspekte scheinen heute durch wirtschaftliche Imperative abgelöst worden zu sein. Als könnte Europa nichts anderes mehr sein als eine Währungsunion.» In diesem Sinne ist der Film wie ein «lästiger Nadelstich», sagt der Regisseur, «ein Mittel, das unterstreichen soll, dass Europa die Lösung und nicht das Problem ist».
Musik und Revolution
Lionel Baier hat nicht zufällig die Musikkomödie gewählt, um den Zusammenprall zwischen Demonstranten und Anhängern Salazars darzustellen – mit einer Gegenüberstellung böser Schwarzgekleideter und junger Frauen mit bunten Kopftüchern, so genannten Bandanas. Sein Film ist in erster Linie eine Hommage ans Epochenkino und an Regisseure wie Mario Monicelli und Ettore Scola.
Sein Werk ist aber auch ein Versuch, «die Idee einer Revolution dynamischer zu machen, wie etwas, das Energie vermittelt und die Individuen in fiktive Personen verwandelt, weil sie in den Strudel eines historischen Moments geraten sind, ob sie das wollten oder nicht.»
Musik war übrigens der Schlüssel der Nelkenrevolution. In der Nacht des 25. Aprils 1974 strahlte das portugiesische Radio das Lied Grândola, Vila Morena aus, das vom Regime zensuriert wurde. Es läutete die Revolte ein, die von der Bewegung der bewaffneten Streitkräfte geführt und von der Bevölkerung unterstützt wurde. Die gleiche Melodie hallt seit Februar 2013 erneut durch die Strassen Portugals – als Hymne gegen die Sparpolitik.
Beruf Reporter
Im Gegensatz zum ersten Film der Tetralogie ist Les grandes ondes (à l’Ouest) nicht autobiografisch. Das Drehbuch orientiert sich jedoch an den Erfahrungen, die Lionel Baier als Journalist gemacht hat, und an Erzählungen von Journalisten-Kolleginnen und –Kollegen.
«Die Radio –und Fernsehgesellschaft SRG hat mich zu einer Reportage-Reise in die Länder des Ostens eingeladen zusammen mit zwei Journalisten und einem Techniker. Die Dynamik dieser Reise hat mich enorm fasziniert: die täglichen Debatten unter Kollegen und Vorgesetzten, die Gruppendynamik, die Verantwortung, über das Radio der Hörerschaft andere Realitäten zu vermitteln. Von da stammt die Idee zum Film.»
Baier wirft einen burlesken, gleichzeitig aber auch ehrlichen Blick auf das Metier der Journalisten und die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind. Ein Thema, das ihm wichtig ist und in mehreren seiner bisherigen Filme zur Sprache kommt.
So ist etwa der Gedächtnisverlust von Cuavin, der nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann, auch ein Symbol einer journalistischen Freiheit, die nie erworben wird, und der ständigen Notwendigkeit, sich neu zu erfinden. «Ich glaube, es ist ein ewiger, aber auch gesunder Kampf um die Unabhängigkeit der Medien, denn er erlaubt den Journalisten, ihre Überzeugungen zu stärken und immer auf der Hut zu sein, so machen sie eine bessere Arbeit.»
Nach Polen (Comme des voleurs) und Portugal (Les grandes ondes) wird Lionel Baier nach Italien und Grossbritannien aufbrechen, um seine Kartografierung Europas zu beenden. Unmöglich vorauszusagen, was er aus dem Süden zu erzählen weiss….aber eines ist sicher: «Das Italien der 1950er- und 60er-Jahre spielte in der Kinogeschichte eine wesentliche Rolle. Es ist ein Kino, das ich sehr bewundere. Ich gebe auch zu, dass ich etwas Angst vor der Idee habe, mich mit diesen Filmgrössen auseinandersetzen zu müssen. Denn man weiss…in bin kein sehr mutiger Typ.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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