«Naturgefahren vereinen die Schweizer»
Der Bieler Peter Utz beschreibt in seinem Buch "Kultivierung der Katastrophe" die Ängstlichkeit, welche die Fantasie der grossen Schriftsteller dieses Landes prägt. Laut dem Professor an der Universität Lausanne ist die Angst vor dem Schlimmsten eine Schweizer Besonderheit.
Vom Ausland aus betrachtet sind Schweizerinnen und Schweizer die Ruhe selbst. Erzählen Sie einem Engländer oder einer Spanierin, dass die Schweizer von Katastrophenängsten geplagt sind, und Sie werden grosses Staunen in ihren Augen sehen. Trotzdem ist die Ängstlichkeit eines der Identitätsmerkmale der Schweiz, spürbar in der grossen Literatur dieses Landes.
Das behauptet der Lausanner Uniprofessor Peter Utz in seiner bemerkenswerten Abhandlung «Kultivierung der Katastrophe». Er erklärt darin, wie sich die Ängstlichkeit seit dem 18. Jahrhundert bis in die heutige Zeit «in einen Gärstoff der literarischen Kreativität verwandelt».
swissinfo.ch: Lawinen, Feuersbrünste, Bergstürze und Überschwemmungen sollen die Schweizer Literatur beflügeln, sagen Sie. Woher rührt bei den Schweizern diese grosse Angst vor Tragödien?
«Die Berge nehmen eine zentrale Position im Land ein. Sie sind nicht nur eine touristische Attraktion, sondern von ihnen geht auch eine Bedrohung aus.» Peter Utz
Peter Utz: Die Faszination für Naturkatastrophen stammt aus der alpinen Identität der Schweiz, die sich über die Jahrhunderte gebildet hat. Die Berge nehmen eine zentrale Position im Land ein. Sie sind nicht nur eine touristische Attraktion, sondern von ihnen geht auch eine Bedrohung aus.
Doch die mehrsprachige Schweiz brauchte eine Basis, die ihre kulturelle Vielfalt festigte. Die alpine Idylle ist das Eine; die Katastrophe – ihr Gegenteil – das Andere. Letztere schweisst das Land zu einer Schicksals und Willensgemeinschaft zusammen, die sich durch die gegenseitige Unterstützung unter den verschiedenen Schweizer Sprachgruppen ausdrückt. Die Naturgefahren sind es, welche die Schweizer vereinen, weil keine gemeinsame Sprache dies kann.
swissinfo.ch: Gibt es einen Auslöser für diese Katastrophenkultur?
P.U.: Das war der Bergsturz von Goldau (Kanton Schwyz) im Jahr 1806. Ab jenem Moment hat sich diese Kultur institutionalisiert. Man forderte im ganzen Land finanzielle Unterstützung für die und Solidarität mit den Betroffenen.
1934 findet die Gefahr der Berge mit dem heute symbolträchtigen Roman «Derborence» von Charles-Ferdinand Ramuz ihr Echo in der Literatur. Damit schrieb der Schriftsteller auch die vergessene Tragödie eines Bergsturzes im Wallis von 1714 ins kollektive Bewusstsein der Schweiz.
swissinfo.ch: Was rechtfertigt heute noch solche Ängste gewisser Autoren, etwa des 66-jährigen Thomas Hürlimann, den Sie zitieren?
P.U.: Die Ängstlichkeit hat unsere Literatur nicht verlassen, sie gehört zu unserer Identität. Sagen wir aber, dass sich ihr Schwerpunkt verschoben hat. Wenn Hürlimann diese Angst in seinem Stück «Grossvater und Halbbruder» thematisiert, tut er das, weil er sie kritisieren will.
In der ersten Zeit war es darum gegangen, die fehlende Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer im Fall einer Katastrophe anzuprangern. Ich möchte aber nebenbei erwähnen, dass auch andere Autoren wie etwa Jeremias Gotthelf bereits im 19. Jahrhundert streng mit dieser erzwungenen Solidarität, die immer auch eine Profitquelle war, ins Gericht gegangen waren.
swissinfo.ch: Sie schreiben: «Die Literatur nimmt die explosive Kraft der Katastrophe weiterhin beim Wort.» Was meinen Sie damit?
P.U.: Das heisst, dass die Katastrophe weiterhin ein Katalysator für die Denkweise und Aktivität der Schweizer Schriftsteller bleibt. So machte sich etwa Friedrich Dürrenmatt einen Spass daraus, sich Katastrophen vorzustellen, die nicht nur die Schweiz betrafen, sondern die ganze Welt. Seine Naturkatastrophen haben kosmische Ausmasse. Er nutzt diese aus, um die Logik bis ins Extreme zu stossen.
swissinfo.ch: Können Katastrophen auch als Ausdruck einer göttlichen Strafe gelesen werden?
P.U.: Nicht selten übersetzen die modernen Schweizer Schriftsteller ihre Repräsentation von Katastrophen in eine Angst vor der göttlichen Strafe. Damit wollen sie die Spannungen innerhalb der Gesellschaft aufzeigen.
«Auch andere Länder bauten ihre Identität auf einer Bedrohung auf. Denken Sie nur an die Niederlande und deren Kampf gegen das Meer oder an Japan und dessen Kampf gegen die Erdbeben.» Peter Utz
Ein Beispiel: «Die grosse Angst in den Bergen» von Ramuz. Im Hintergrund liegt eine Alpwiese, wo die Gefahr eine unerklärliche Seite behält, die ihr einen mystischen Charakter gibt.
Dürrenmatt andererseits glaubt nicht an einen strafenden Gott, der die Schweiz wegen dieser oder jener Übertretung bedroht. Für ihn haben die Katastrophen den Effekt des Zufalls: rein physikalische Ereignisse.
swissinfo.ch: Wer sind die Schweizer Katastrophen-Champions, die Deutschschweizer, die Tessiner oder die Romands?
P.U.: Ich kann weder einen qualitativen noch einen quantitativen Unterschied feststellen. Ich habe das Gefühl, die Gefahr ist ein gemeinsames Haus unserer verschiedenen Literaturen.
Das heisst nun aber nicht, dass wir die Einzigen wären, die eine Kultivierung der Katastrophe pflegten. Auch andere Länder bauten ihre Identität auf einer Bedrohung auf. Denken Sie nur an die Niederlande und deren Kampf gegen das Meer oder an Japan und dessen Kampf gegen die Erdbeben.
swissinfo.ch: Welcher Schweizer Schriftsteller ist der Katastrophe am meisten zugeneigt?
P.U.: Ich würde sagen, immer wieder Ramuz und Dürrenmatt. Gut, ich zolle auch Max Frisch viel Respekt, welcher der Katastrophe ein eher subtiles, weniger spektakuläres Bild als die zuvor Erwähnten gegeben hat. In seinem Buch «Der Mensch erscheint im Holozän» geht es um eine stille Katastrophe. Sie ereignet sich in einem abgeschiedenen Tessiner Tal, aber auch im Gehirn des Hauptprotagonisten. Was zeigt, dass die Katastrophe häufig auch eine Schöpfung unseres Geistes ist.
Peter Utz
Der Professor und Literaturwissenschaftler wurde 1954 in Biel geboren. Er studierte in Bern und München.
Seit 1987 unterrichtet er moderne deutsche Literatur an der Universität Lausanne.
Als Forscher wurde er nach Berlin, Freiburg im Breisgau und Wien eingeladen.
Er forscht und publiziert über die neuere deutsche Literatur, die Schweizer Literatur und die literarische Tradition.
Utz ist Spezialist für das Werk von Robert Walser. Er publizierte darüber unter anderem das Buch «Tanz auf den Rändern» (1998).
Sein jüngstes Buch ist «Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz» (2013). Es wurde nun auch auf Französisch übersetzt.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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