Locarno: Durchzogene Bilanz
Der Schweizer Film war beim diesjährigen Filmfestival Locarno gut vertreten. Die Schlussbilanz fällt gemischt aus.
Besonders die Dokumentarfilme überzeugten mit erzählerischer Kraft und formaler Originalität. Wenig Lob erhielten hingegen die beiden Spielfilme im Wettbewerb.
Herausragendster neuer Schweizer Film in Locarno war «Forget Baghdad – Jews and Arabs – The Iraqi Connection» des 1955 im Irak geborenen, seit 1961 in der Schweiz lebenden Samir. Im Zentrum der Dokumentation stehen vier ältere in Israel lebende Juden irakischer Herkunft.
Deren Leben zwischen verschiedenen Kulturen wird erfasst in einem dicht gewebten Geflecht aus Interviews, Ausschnitten aus Spielfilmen sowie TV-Archivmaterial, einem von Samir selbst gesprochenen Kommentar und zahllosen grafischen Elementen.
Dabei entsteht ein detailreicher historischer Überblick. Er ist angereichert mit vielen Informationen, etwa zum Umgang mit der Sprache und dem Einfluss der Massenkultur auf den Alltag in Israel. Trotz der Fülle des Materials besticht das Werk als kultursoziologische Studie von ausserordentlicher Authentizität.
Bruno Ganz in «Behind Me»
Auch der zweite besonders bemerkenswerte neue Schweizer Film lief in der Kritikerwoche, die Dokumentarfilmen vorbehalten ist. «Behind Me» des Berners Norbert Wiedmer porträtiert Schauspielstar Bruno Ganz in einem ungewöhnlich intensiven Bilderreigen. Bruno Ganz selbst hat sich dabei mit einer Videokamera aktiv beteiligt.
So entstand die im besten Wortsinn eigenwillige Studie eines liebenswerten Menschen und begnadeten Charakterdarstellers fern von Filmbiographie-Klischees. In seinen stärksten Momenten strahlt «Behind Me» die Schönheit eines Gedichtes aus.
Hang zu Nabelschau und Bastelei
Andere neue Schweizer Filme, die in Locarno präsentiert wurden, fanden weniger positive Aufnahme. Dies liegt oft daran, dass der Blick auf die Sujets kaum über eine Nabelschau hinausreicht. Problematisch ist oftmals auch die hölzerne, didaktische Gestaltung, manchmal auch der Hang zum Kunstgewerbe.
Darunter leidet etwa «Ich hiess Sabine Spielrein» in der Regie von Elisabeth Marton, ein mit schwerfälligen Spielszenen belasteter Essay über Sabine Spielrein, eine Pionierin der Psychoanalyse.
Ein Zuviel an ausgetüftelter Gestaltung belastet auch die Dokumentation «Guerre sans images – Algérie, je sais que tu sais» von Mohammed Soudani. Begleitet vom Berner Fotografen Michael von Graffenried forscht der Regisseur in seiner Heimat Algerien nach Menschen, die von Graffenried im Jahrzehnt zuvor dort mit der Kamera verewigt hatte.
Enttäuschende Spielfilme im Wettbewerb
Der im Wettbewerb gezeigte neue Schweizer Spielfilm «Aime ton père» des Genfers Jacob Berger leidet unter plumpem Erzählen mit moralisch erhobenem Zeigefinger. Dadurch fesselt die Story eines dramatischen Vater-Sohn-Konflikts kaum – trotz der Hauptdarsteller Gérard Depardieu und dessen Sohn Guillaume Depardieu.
Die zweite Schweizer Produktion im Wettbewerb, «Oltre il Confine» («Hinter der Grenze») des Zürcher Filmers Rolando Colla, verschenkt dagegen ihre im Ansatz starke Story um die Verwicklungen einer Frau in den Krieg im ehemaligen Jugoslawien an ein Übermass von Kitsch, dem sich ein Grossteil des Publikums allerdings gerne hingab.
Einhellig positiv dagegen fiel der schweizerisch-amerikanische Spielfilm «Birdseye» von Stephen Beckner und Michael Huber auf, der als einziger Schweizer Beitrag auf der Piazza Grande lief. Der Witz der Farce wider die Dummheit Einzelner im allgemeinen und der Massenmedien insbesondere löste weithin Vergnügen aus und hat gute Chancen auf internationalen Erfolg.
Letzteres gilt ebenfalls für «Forget Baghdad» und «Behind Me». Damit hat sich die breite Präsentation des Schweizer Films in Locarno schon bezahlt gemacht.
swissinfo und Claus Peter (sda)
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