Locarno zeigt die zwei Gesichter des Schweizer Films
Wohin steuert das Schweizer Spielfilm-Schaffen, wenn die Kinobranche die harte Realität der Pandemie hinter sich gelassen hat? Stefan Jägers "Monte Verità" und Lorenz Merz' "Soul of a Beast", zwei grosse Produktionen, die am Filmfestival Locarno 2021 ihre Premiere feiern, zeigen uns den Weg.
Wenn man zu den Menschen gehört, die an meteorologische Vorzeichen glauben, könnte man meinen, der Kampf um die stilistische Vorherrschaft im Schweizer Kino sei bereits entschieden.
Am 6. August feierte «Soul of a Beast» am Filmfestival Locarno eine bemerkenswerte Premiere: Bei strahlendem Sonnenschein versammelte sich eine grosse Menschenmenge mit Impfpass oder negativem Covid-Test in der Hand im 2800 Plätze fassenden Vorführsaal des Palexpo.
Als Regisseur Lorenz Merz die Bühne betrat, um seinen Film vorzustellen, einen neongetränkten, mezcalgeschwängerten Fiebertraum von einem Familiendrama, wurde er mit donnerndem Applaus empfangen – Applaus, der nachdrücklich wiederholt wurde, als der Abspann zu laufen begann.
Am folgenden Abend sollte «Monte Verità» in Locarno eine noch verheissungsvollere Premiere feiern – unter dem Sternenhimmel auf der berühmten Piazza Grande. Hier waren die meisten der berühmten 8000 gelben Stühle von einem Publikum besetzt, das danach gierte, zu den ersten zu gehören, die Stefan Jägers filmische Hommage an den titelgebenden Hügel von Ascona und seinen Platz in der utopischen Geschichte sehen konnten.
Doch es kam anders: Sintflutartige Regenfälle suchten in der Nacht die Region Lago Maggiore heim. Die Premiere der neuesten einheimischen High-Budget-Produktion, die Schweizer Geschichte zum Leben erwecken und an die Erfolge von «Zwingli oder Labyrinth des Friedens» anknüpfen will, fiel buchstäblich ins Wasser.
Jenseits von Gottes Willen
Aber soweit wir wissen, sind es nicht die Götter, die über den Erfolg eines Films oder einer ganzen Art des Filmemachens entscheiden. Diese Macht liegt in den Händen des Publikums, der Kritikerinnen und Kritiker sowie der Geldgeber, besonders in der Schweiz, wo die Debatten über die angeblich kreativitätshemmende Wirkung der Filmförderung spätestens seit 2012 im Mittelpunkt der nationalen Filmdiskussion stehen – dem Jahr, in dem der Journalist Florian Keller den unübersetzbaren Begriff “Schissfilm”Externer Link prägte, um die kreative Flaute und die offensichtliche thematische Feigheit des Schweizer Kinos zu beklagen.
Filmemacherinnen und Filmemacher, so heisst es, haben Angst, die Ausschüsse zu verärgern, die für die Bewilligung von Finanzhilfen für ihre Projekte zuständig sind. Wenn sie also Vorschläge zur Prüfung einreichen, greifen die meisten von ihnen auf allgemein zugängliche, im Allgemeinen unumstrittene Kost zurück.
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Ja, das Ergebnis ist ein solider Strom von lokal produzierten Filmen, die in die Schweizer Kinos kommen, und ein recht stabiles Einspielergebnis an den Kinokassen. Aber dies scheint auch einen künstlerischen Preis zu haben: Selbst der gelegentlichste Schweizer Kinobesucher wird nicht umhin kommen, die formelhaften Plots und sich wiederholenden Tropen – eine alte Frau tut etwas Unerwartetes, eine «obskure» Episode aus der Schweizer Geschichte, eine Bestsellerverfilmung – zu bemerken, wie sie die Schweizer Kinosäle dominieren. Der Komiker Patrick Karpiczenko hat eigens eine Webseite eingerichtetExterner Link, um diese Tendenz auf die Schippe zu nehmen.
Es ist keine Überraschung, dass das internationale Profil des Schweizer Spielfilms in den letzten 20 Jahren deutlich abgenommen hat. In einer Welt, in der eine koreanische Satire wie «Parasite» zu einem der grössten Hits des Jahres 2019 werden kann, kämpfen selbst die finanziell lukrativsten Schweizer Produktionen um internationale Relevanz.
Man denke nur an die glanzlose Netflix-Veröffentlichung von Michael Steiners «The Awakening of Motti Wolkenbruch» (2018), die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen jüdischen Mannes, der mit seiner Mutter und seinen religiösen Traditionen in Konflikt gerät.
Ein Blick voraus
Wie geht es nun weiter, wenn man bedenkt, dass die gesamte Branche derzeit versucht, mit den wirtschaftlichen Rückschlägen und logistischen Herausforderungen fertigzuwerden, die durch die ersten 18 Monate der Covid-19-Pandemie verursacht wurden?
Obwohl es immer riskant ist, eine Vorhersage zu wagen, vor allem, wenn es um etwas so Unbeständiges wie die Kunst geht, scheint es vernünftig, die wichtigsten Schweizer Auftritte am diesjährigen Filmfestival von Locarno als eine Art Wegweiser für die stilistische Zukunft zu betrachten.
Während sich «Monte Verità» mit seinem Fokus auf die Utopie der Proto-Hippie-Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Monte Verità ein alternatives Sanatorium betrieb, thematisch sehr stark mit der Vorstellung von neuen Wegen beschäftigt, ist der Film selbst für das Schweizer Kino Business as usual.
Regisseur Stefan Jäger, der seit mehr als 30 Jahren an diesem Film arbeitete, sicherte sich zusammen mit seinem Produktionsteam die Finanzierung durch den Bund sowie zusätzliche Unterstützung aus Deutschland und Österreich.
Das für Schweizer Verhältnisse beachtliche Budget von sieben Millionen Franken ist auf der Leinwand unübersehbar: Das Produktionsdesign ist tadellos, ebenso die Kostüme, und der Film ist mit prominenten deutschsprachigen Schauspielerinnen und Schauspielern verschiedener Nationalitäten besetzt (Max Hubacher, Julia Jentsch, Joel Basman, Hannah Herzsprung).
Dieser internationale Aspekt wird durch die Entscheidung, die Handlung um eine österreichische Protagonistin (gespielt von Maresi Riegner) kreisen zu lassen, noch unterstrichen. Das bedeutet, dass der Film fast vollständig in akzentfreiem Hochdeutsch gedreht wurde und somit problemlos in die beiden Länder exportiert werden kann, die ihn koproduziert haben.
In erzählerischer Hinsicht scheut sich «Monte Verità» nicht, ausgetretene Pfade zu beschreiten, angefangen bei Kornelija Naraks› anmassendem Drehbuch, das häufig auf eine implizite Erzählweise verzichtet und stattdessen seine Absichten unverblümt verkündet. (Ein denkwürdiges Beispiel ist die Aussage des unterdrückerischen Ehemanns der Protagonistin, dass es «mein Recht» sei, seine Frau zu vergewaltigen.)
Hat sich Riegners fiktive Hauptfigur erst einmal in der Kommune auf dem Monte Verità eingelebt, wird das Festhalten der Handlung an den gängigen Tropen der Liebes- und Selbstverwirklichungs-Dramen geradezu religiös.
Der Teufel steckt im Detail
Man hätte für diese Form des Kinos keine bessere Folie finden können, als «Soul of a Beast», der im internationalen Wettbewerb von Locarno um den Hauptpreis des Festivals konkurriert.
Laut Lorenz Merz ist die impressionistische, pathosgeladene Geschichte einer Dreiecksbeziehung – die noch dazu in einer stilisierten Version von Zürich spielt, in der die Fernsehnachrichten Französisch sind und der Autoritarismus gleich um die Ecke zu lauern scheint – fast absichtlich gegen die Vorliebe des Schweizer Kinos gerichtet: «Ich möchte keinen Film machen, der allen gefällt», sagte er vor einer Gruppe von Schweizer Kritikerinnen und Kritikern.
Tatsächlich stand am Anfang des Denkprozesses, der schliesslich zu dem fröhlich chaotischen Film reifte, der im Palexpo-Kino so begeistert aufgenommen wurde, «die Absicht, einen Film zu machen, wie er sonst in der Schweiz nicht gemacht wird».
Befreiung
In dieser Hinsicht liefert «Soul of a Beast» definitiv, indem er sein Publikum überfällt – mit einer schwindelerregenden Mischung aus knalligen Farben, ekstatischen Kamerabewegungen, sich überlagernden Klanglandschaften, nicht-linearer Erzählung und einer von Magie durchdrungenen Geschichte mit elektrischen Giraffen und japanischen Synchronsprechern im Anime-Stil.
Es ist ein unvollkommener, oft kaum kohärenter Mix aus Stilen und Ideen, der jeden Versuch, ihm einen Sinn zu geben, zunichte machen kann. Ist es ein Meisterwerk des Schweizer Kinos? Wahrscheinlich nicht. Ist er locker und herausfordernd auf eine Art und Weise, wie es das Schweizer Kino nur allzu selten ist oder sein darf? Auf jeden Fall.
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Einmalige Hinterlassenschaft nicht nur für die Schwulen-Gemeinschaft
Auf die Frage nach den internationalen Perspektiven von «Soul of a Beast» verweist Merz jedoch auf eine Hürde, die durch die kreative Selbstgefälligkeit des Schweizer Filmschaffens der letzten Jahre und die daraus resultierende geringere internationale Relevanz entstanden sein mag: Die Vertriebsverantwortlichen, selbst die von Unternehmen, die bereits «schräge» Filme auf globaler Ebene vertrieben haben, zögern, sich «Soul of a Beast» anzunehmen, auch weil der Film einen vergleichsweise lokalen Charakter hat.
«Ich weiss nicht, wie ich das verkaufen soll», ist ein Satz, mit dem Merz in Locarno konfrontiert wurde und der darauf hindeutet, dass elektrische Giraffen zwar schön und gut sind, aber dass es vielleicht zu weit geht, die Figuren auf Schweizerdeutsch darüber diskutieren zu lassen.
Die unmittelbare Zukunft des Schweizer Kinos wird sich jedoch im eigenen Land entscheiden. Wenn die regenbedingte Pleite von Locarno kein schlechtes Omen ist, hat «Monte Verità» mit seinem bewährten Erfolgsrezept gute Chancen, am 26. August in die Schweizer Kinos zu kommen.
Die interessantere Frage wird sein, ob «Soul of a Beast», der für März 2022 geplant ist, seine eigene stilistische Sperrigkeit überwinden und an den heimischen Kinokassen konkurrenzfähig sein kann. Man wird es abwarten müssen – darin immerhin ist das Schweizer Kino ganz gut.
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