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«Nostalgie ist nicht erlaubt»

Giona Nazzaro
Giona A. Nazzaro, in seinem natürlichen Habitat. Keystone / Alessandro Crinari

Seit Ende 2020 ist Giona A. Nazzaro künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival. Den erfahrenen Festivalgestalter und Filmexperten beschäftigen vor allem die Auswirkungen der Pandemie. "Es ist völlig legitim, als Zuschauer die Erfahrung im Kinosaal zu vermissen, aber wenn man in dieser Branche arbeitet, ist Nostalgie fehl am Platz", sagt er im Interview.

Giona A. Nazzaro empfängt swissininfo.ch in seinem Zuhause in Rom, jedoch nur virtuell per Videocall. Der Italiener spricht Englisch, beherrscht aber auch Italienisch, Französisch, Portugiesisch und sogar einen (perfekten) Zürcher Dialekt.

Sein Vater war Ingenieur bei ABB in Zürich, wo Nazzaro geboren wurde und bis ins Teenageralter lebte. Doch sein Zuhause ist für ihn «das Kino oder der Platz neben dem Plattenspieler», wie der Jazz-Liebhaber sagt.

Nazzaro ist ein breitgefächerter Filmfan mit einem besonderen Faible für krachende Actionfilme. Er habe sich gerade die Blu-ray von «Fast & Furious»Externer Link gekauft, die er sich nach dem Interview anschauen wolle, erzählt er. Nazzaro nimmt Actionfilme genauso ernst wie andere Filme und hat bereits mehrere Bücher über sie geschrieben. Er gilt als Experte für das Hongkong-Kino und das Werk von Regisseur John Woo.

Als langjähriger Filmfestival-Insider ist Nazzaro leidenschaftlicher Kinofan und nüchterner Planer zugleich. Er gesteht, dass er jedes Mal weint, wenn er sich einen John-Ford-Film ansieht. Aber beruflich und in Anbetracht dessen, wie die Digitalität unseren Filmkonsum prägt, lässt er seine Emotionen im Zaum.

«Es ist völlig legitim, als Zuschauer die Erfahrung im Kinosaal zu vermissen, aber wenn man in dieser Branche tätig ist und versucht zu verstehen, was vor sich geht, ist Nostalgie fehl am Platz», sagt er. «Man muss politisch sein, und politisches Denken heisst hier: wie reagiert man auf eine neue Situation? Wenn man die Dinge, die momentan geschehen, durch die Brille von gestern betrachtet, kommt man nicht weit.»

Was das Locarno Film Festival angeht, das vom 4. bis 14. August geplant ist, erwartet Nazzaro eine leichte Normalisierung. «Locarno ist eine sichere Sache», ist er überzeugt, «obwohl wir wegen der Reisebeschränkungen mit einem Publikumsrückgang von rund 50 Prozent rechnen müssen.»

swissinfo.ch: Herr Nazzaro, wie stellen Sie das Programm des Locarno Film Festival zusammen? Geht es Ihnen mehr um ein geografisches Panorama oder um ein thematisches?

Giona A. Nazzaro: Mein oberstes Ziel ist es, Langweile beim Publikum zu verhindern. Das Leben ist sehr kostbar und wir dürfen keine Zeit verschwenden. Ein anderes Ziel ist es, den Zuschauern etwas zu geben, was sie nicht schon in anderen Situationen gesehen oder erlebt haben.

Ich möchte das Publikum und auch mich selbst überraschen. Ich versetze mich gerne in neue Situationen. Und so bemühe ich mich, meine Grundannahmen auszuschalten und der Welt stets mit offenen Augen zu begegnen.

Giona Nazzaro
Keystone / Alessandro Crinari

Giona A. Nazzaro (55) wurde in der Festivallandschaft für seine kühnen Filmauswahlen für die Kritikerwoche in Venedig bekannt, die er von 2016 bis 2020 leitete, parallel zu Verpflichtungen für die Festivals in Rom, Turin, Rotterdam und dem Visions du Réel in Nyon.

Als Autor veröffentlichte Nazzaro Monographien über Gus Van Sant, Spike Lee und Abel Ferrara und ist in Italien ein Pionier in der Erforschung des Hongkong-Kinos. Sein Buch «Action – Forme di un transgenere cinematografico» (Le mani, 2000) gewann den Barbaro/Filmcritica-Preis. Nazzaro schrieb ausserdem den Roman «A Mon Dragone c’è il Diavolo» (Perdisa Pop, 2010).

Was sehen Sie, wenn Sie die heutige Filmszene betrachten?

Die Filmemacher von heute sind ganz anders als die Filmemacher von gestern. Diese waren meist Kinoliebhaber und kreierten ihre Filme in einem ständigen Dialog mit der Geschichte des Kinos. Heute können Filmemacher Leute sein, die nicht so viele Filme gesehen haben und nicht auf Filmschulen gegangen sind. Sie haben ihr Interesse an Filmen vielleicht über Videospiele oder Musik entwickelt.

Wir haben es mit einer Generation von Filmemachern zu tun, die keine «Vergangenheit» hat, die sehr instinktiv agiert und die es zum Beispiel auch schafft, den Experimentalfilmer Stan BrakhageExterner Link neu zu erfinden, ohne seine Arbeit überhaupt zu kennen.

Das ist extrem spannend und fordert von uns Programmgestaltern, die Art und Weise, wie wir mit Bildern und Ideen arbeiten, neu zu erfinden. Es hilft uns auch, fokussiert zu bleiben. Das Beste ist aber, dass es immer wieder Überraschungen gibt.

Und wie sehen Sie die Branche im Vergleich zu vor 30 Jahren?

Ich bin mit Kino und Retrospektiven aufgewachsen, ebenso mit der Vorstellung, dass sich das Kino auf lineare Art und Weise entwickelt. Jetzt, im digitalen Zeitalter, entdecken wir, dass es sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegt und dass es verschiedene Themen in verschiedenen Sprachen gibt.

Klar, wir müssen Vergangenes im Auge behalten. Es ist immer noch wichtig, Raoul WalshExterner Link oder Howard HawksExterner Link zu kennen, aber es wäre sinnlos, Remakes ihrer Filme zu produzieren. Wir müssen verstehen, wer heute bedeutsame Werke kreiert. Werke, die uns auf die gleiche Weise ansprechen wie früher die Filme von Walsh, Hawks und Ford. Ihre Produktionen waren wichtig, ja notwendig.

Sie sprachen die Bevölkerung der Länder an, in denen sie produziert wurden. Walsh, Hawks und Ford die USA, oder Roberto RosselliniExterner Link Italien, als er nach dem Krieg und 20 Jahren Faschismus den Neorealismus erfand. Mit «Roma città aperta» von 1945 wollte Rossellini sagen: «So bezahlt Italien für seine Sünden». Offensichtlich wollte sich Italien nicht so sehen wie Rosselini dachte. Filmemacher sind immer besser als die Länder, in denen sie arbeiten.

Glauben Sie, das gilt auch für die Filmemacher von heute?

Wir müssen die Beziehung zu Filmemachern neu erfinden und uns immer wieder fragen, warum Kino und Filme wichtig sind. Es ist kein Geheimnis, dass die ersten 100 Jahre des Kinos hauptsächlich männlich, weiss, heterosexuell und westlich waren. Heute müssen wir darauf achten, dass das Kino inklusiver wird, damit die nächsten 100 Jahre Kino nicht wieder weiss, heterosexuell, westlich und männlich sein werden. Es ist sinnlos, ein Gespräch über die Vergangenheit zu führen, wenn man Nichts daraus lernt.

Nazzaros Vorgängerin Lili Hinstin, hier mit dem Filmemacher John Waters
Nazzaros Vorgängerin Lili Hinstin (hier mit dem Filmemacher John Waters) verliess ihren Posten im vergangenen September wegen Differenzen mit dem Festivalvorstand. Im Jahr 2020 ging das Locarno Film Festival aufgrund der Pandemie in abgespeckter Form über die Bühne. Keystone / Urs Flueeler

Wenn Sie nun auf Locarno blicken, was übernehmen Sie von Ihren Vorgängern?

Ich stehe im Dienst des Filmfestivals. Es wäre also extrem arrogant zu sagen: «Ich werde alles umkrempeln». Im Dienst des Festivals zu arbeiten, bedeutet: Versuchen zu verstehen, wohin sich die Filmindustrie entwickelt. Wie formt sie die verschiedenen Strömungen innerhalb der Branche um?

Wie gehen die verschiedenen Publikumsgruppen mit den Veränderungen unserer Beziehung zu den Bildern um? Wie interagieren und sprechen die unterschiedlichen Publikumsschichten im Rahmen des Festivals miteinander? Es geht nicht darum, was ich verwerfe oder behalte. Wir befinden uns in einer völlig neuen Situation.

Sie sprechen die Pandemie an.

Die Pandemie hat die ganze Filmlandschaft verändert. 2019 war eine andere Welt. Damals lief es so: Sobald Locarno vorbei war, ging es zum Festival von Venedig, danach nach Toronto. Anschliessend war es Zeit für Sundance, und schliesslich mussten wir uns für Berlin vorbereiten. Das war der normale Zyklus; es war toll, die Branche hatte ihren Flow. Das ist jetzt völlig irrelevant.

Zurück zur Normalität zu gehen, ist keine Option, denn die gesamten Veränderungen der letzten anderthalb Jahre sind nachhaltig. Ich freue mich darauf, dass es das Locarno Film Festival wieder gibt, aber die Branche wird sich neu organisieren müssen, um zu verstehen, wo und wie Filme in dieser Zeit des Umbruchs gesehen, konsumiert und produziert werden können.

Wie beurteilen Sie die bisherigen Versuche, die Kino-Branche umzugestalten?

Ich las heute einen Artikel im Magazin «Variety», in dem es darum ging, dass die erwarteten Blockbuster das Kinofenster umgestalten werden. Ein neuer «Mission Impossible» zum Beispiel, der im Sommer herauskommt, wird den ganzen Sommer und Herbst über Bestand haben; bis Mitte Oktober wird er überall gezeigt werden.

Heute planen Kinos fast nur noch in Ausnahmen ein 45-Tage-Fenster ein, bevor die Filme auf Streaming-Plattformen übergehen. Und Netflix investiert in neue Produktionen, sowohl Filme als auch Serien, etwa in Südkorea und anderen Ländern. Die ganze Branche formt sich komplett neu. Es ist fast unmöglich, die Zukunft vorherzusagen.

Giona A. Nazzaro, Marco Solari, Raphael Brunschwig
Erster Auftritt: Giona A. Nazzaro (links) während einer Pressekonferenz im November 2020 gemeinsam mit Festivaldirektor Marco Solari (mitte) sowie dem operativen Leiter Raphael Brunschwig. Keystone / Davide Agosta

Cannes und andere prestigeträchtige Festivals haben grosse Vorbehalte gegen Filme von Streaming-Plattformen. Hätten Sie ein Problem damit, Produktionen von HBO oder Netflix in Ihr Programm aufzunehmen?

Auf keinen Fall. Ich verkenne nicht, dass einige Streaming-Unternehmen alles gleichzeitig sind: Verleiher, Vertriebsunternehmen und Produzenten. Sie rütteln am Arbeitsmarkt – ich sehe die Gefahren. Zugleich muss man akzeptieren, dass der Wandel sowieso stattfindet. Wenn ich wählen kann, wo ich einen Film sehe, dann im Kino.

Wir unterstützen die Menschen, die Kino ermöglichen – die Verleiher und Agenten, welche mit Filmemachern arbeiten und sie unterstützen. Aber als Festivaldirektor muss ich die Augen offenhalten. Es ist einfach zu sagen, «Diese Leute machen das Kino kaputt».

Aber ist dieser Wandel zum Besten?

Diese Industrie hat sich immer verändert. Das Kino ist eine Kunstform, die wesentlich mit dem Kapitalismus und der Wirtschaft verbunden ist. Es ist nicht etwas, das in einer «bottega», einer Werkstatt entsteht, oder in einem Atelier wie zu Zeiten der Renaissance, als der Künstler allein an einer Marmorstatue oder einem Gemälde arbeitete. Qualität kommt nicht nur von einem Ort.

Ist alles auf Netflix gut? Nein! Genauso ist nicht alles gut, was im Kino gezeigt wird. Die Krux ist also das Kuratieren – das ist die eigentliche Herausforderung. Man muss sich all die Trends und Produktionen anschauen und dabei stets fragen: Was ist wirklich gut und wichtig? Das ist sehr komplex.

Wie beurteilen Sie den Einfluss der Streaming-Plattformen auf das Filmemachen an sich?

Nehmen wir zum Beispiel Martin Scorsese’s «The Irishman»Externer Link, der von Netflix produziert wurde. In einem traditionellen Studiosystem würde dieser Film niemals das Licht der Welt erblicken. Dasselbe gilt für sein neues Werk: «Killers of the Flower Moon»Externer Link.

Auch ein Film wie «Malcolm & Marie» – eine Schwarz-Weiss-Produktion, die zwei Schauspieler zeigt, welche in einem Raum eingeschlossen sind und zwei Stunden lang reden – würde niemals von einem Studio produziert werden. Und wenn doch, würde sie nur wenige Leute erreichen. 

Weil die Studios einer kommerziellen Doktrin folgen, bei der Risiken vermieden werden?

Ja. Man kann schon Retrospektiven zeigen. Wir werden in diesem Jahr die Arbeiten von Alberto LattuadaExterner Link in einem retrospektiven Kontext präsentieren. Aber wenn Sie wissen wollen, wohin sich das Kino entwickelt, müssen Sie sich die Wettbewerbsfilme und Kurzfilme ansehen. Dort sind die Filmemacher von heute zu finden. Diese haben vielleicht noch nie von Alberto Lattuada oder John Ford gehört, aber sie sind die Menschen, die das Kino am Leben erhalten werden.

Wie liegen die Gefahren für ein Filmfestival? Was müssen Sie vermeiden?

Wir müssen eine Situation vermeiden, in der das Festival eintönig wird. Ich denke, es sollte ein Ort sein, an dem man interessante US-Blockbuster genauso zu sehen bekommt wie das Beste aus Europa, neue Filmemacher mit ihren ersten Produktionen und einzelne Werke aus der ganzen Welt.

Man kann all dies in ein Programm packen, das viele verschiedene Menschen anspricht. Kino existiert heute in vielfältigster Form. Es ist nicht mehr vertikal oder horizontal, es ist… rhizomisch. Das ist das richtige Wort! Es breitet sich in alle Richtungen aus.

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