75 Jahre Locarno Film Festival: Ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Das prestigeträchtigste Filmevent der Schweiz feiert seine 75. Ausgabe und bietet eine Zeitreise durch die Geschichte mit einer einzigartigen Film-Mischung.
Über Generationen des Filmschaffens hinweg hat sich das Filmfestival von Locarno aufmerksam dem Wandel der Zeit angepasst, ohne jedoch seine Daseinsberechtigung zu verlieren – nämlich ein grosses Fest des Kinos mit seiner einzigartigen Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein. Auch in diesem Jahr, in dem das Festival seinen 75. Geburtstag feiert.
Es gibt viel zu feiern in dieser kleinen, malerischen Stadt am Rande des Lago Maggiore im italienischsprachigen Kanton Tessin. Es ist die erste vollständige Ausgabe seit 2019 und dem Beginn der Covid-19-Pandemie. Filmemacher:innen und Fans aus Übersee sind zurück, die Hotels sind ausgebucht und alle Veranstaltungsorte in Betrieb.
Das Programm bietet eine breite Auswahl an Filmen, die von Giona A. Nazzaro, dem künstlerischen Leiter des Festivals, klug kuratiert wurde. Er zeigt seine unverwechselbare, allumfassende Handschrift, mit der er sich als Filmkritiker und Programmgestalter einen Namen machte, bevor er letztes Jahr die Leitung von Locarno übernahm. Getreu dem Geist von Locarno hat die cinéphilie Vorrang vor den Hypes des Filmmarktes.
Wo Hollywood auf Arthouse trifft
Nazzaro ist kein Neuling in Locarno, er besucht das Festival seit 1994 regelmässig. In jenem Jahr wurde Pulp Fiction in Anwesenheit des Regisseurs Quentin Tarantino auf der Freilichtbühne der Piazza Grande gezeigt, unmittelbar nach seinem überwältigenden Triumph in Cannes – niemand kannte Tarantino vorher, und niemand konnte sich ihm danach entziehen.
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Aber für Nazzaro hat das Festival einen tieferen Eindruck hinterlassen: «Die ersten beiden Filme, die ich auf der Piazza gesehen habe, waren Speed und Through the Olive Trees«, sagt er und bringt damit die Einzigartigkeit Locarnos auf den Punkt: Auf der einen Seite ein typisch amerikanischer Actionfilm, auf der anderen Seite ein selbstreflexives iranisches Drama.
Eine solche Gegenüberstellung ist Teil der DNA von Locarno. Carlo Chatrian, einer von Nazzaros Vorgängern und derzeitiger künstlerischer Leiter der Berliner Filmfestspiele (Berlinale), erzählt eine ähnliche Geschichte, als er das Festival in den späten 1990er Jahren zum ersten Mal besuchte: «Man konnte sich die Retrospektive eines Avantgarde-Filmemachers wie Jonas Mekas anschauen und dann There’s Something About Mary auf der Piazza Grande sehen.»
Die beiden Kritiker und Programmgestalter kamen während der Amtszeit von Frédéric Maire, dem heutigen Direktor der Cinematèque Suisse (Schweizerisches Filmarchiv), zum Team des Festivals. Der in Zürich geborene Nazzaro begann seine Karriere als Moderator und Übersetzer für deutsch- und schweizerdeutschsprachige Filmdelegationen, begann aber bald, sich persönlich mit Autor:innen und Macher:innen aus aller Welt auseinanderzusetzen.
Auf der Liste der besonderen Gäste stehen in diesem Jahr der griechische Regisseur Costa-Gavras, Meister des politischen Kinos (aber nicht nur); die grande dame der Multimedia-Kunst, Laurie Anderson; und der amerikanische Schauspieler Matt Dillon, der gemäss Nazzaro «das Beste einer in den 1970er Jahren entstandenen Idee des amerikanischen Kinos repräsentiert und gleichzeitig den Mut zu unkonventionellen Entscheidungen feiert».
Als anerkannter Experte für Actionfilme und bekennender Fan von so genannten «B-Movies» (kommerziellen Low-Budget-Filmen) hat Nazzaro auch den unabhängigen Produzenten Jason Blum eingeladen, dessen Credo es ist, nicht mehr als fünf Millionen Dollar für einen Film auszugeben (oder zehn Millionen, wenn es sich um eine Fortsetzung handelt).
Blum wird oft als «moderner Roger Corman» bezeichnet, der Pionier des Mikro-Budget-Horrorfilms, und ist am besten für seine Purge-Filmreihe bekannt, die ein nicht ganz so dystopisches Amerika vorstellt, in dem die reichen Eliten ein schmutziges Spiel spielen, um die Armen loszuwerden (der dritte Teil mit dem Titel Election Year wurde im Sommer 2016 veröffentlicht, nur wenige Monate vor der Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald Trump).
Eine Zeitreise
Die Schweizer Premiere des Animationsfilms No Dogs or Italians Allowed, der im Juni auf dem Animationsfilmfestival von Annecy mit grossem Beifall aufgenommen wurde, markiert das «Prefestival-Event»: eine kostenlose Veranstaltung auf der Piazza Grande am Abend vor der offiziellen Eröffnung. Der Film basiert auf der Familiengeschichte des Regisseurs Alain Ughetto und ist ein fiktives Gespräch zwischen dem Filmemacher, der die Stop-Motion-Puppen steuert, und seiner verstorbenen Grossmutter über ihren Mann, einen Italiener, der aus beruflichen Gründen nach Frankreich ausgewandert ist.
Der Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist bereits in den ersten Tagen des Festivals zu spüren. Das Eröffnungsprogramm am 3. August bietet eine Sondervorführung von D.W. Griffiths Broken Blossoms (1919), einem Stummfilmklassiker, mit Live-Musikbegleitung. Auf der grossen Leinwand der Piazza Grande wird der mit Spannung erwartete Actionfilm Bullet Train mit Brad Pitt und Aaron Taylor-Johnson in den Hauptrollen gezeigt.
Trailer von Broken Blossoms (auf Englisch):
Trailer von Bullet Train (auf Englisch):
Eine der wichtigsten Neuerungen in Nazzaros Amtszeit ist ein Virtual-Reality-Programm. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Geneva International Film Festival kuratiert und ist an einem besonderen Ort frei zugänglich – der ursprünglichen Vorführkabine auf der Piazza Grande, die in einen VR-Raum verwandelt wurde, der bis zu acht Besucher gleichzeitig aufnehmen kann.
Eine weitere willkommene Neuerung, die im letzten Jahr eingeführt wurde, ist die Erweiterung der Kurzfilmsektion Pardi di domani um einen dritten Wettbewerbsstrang, der etablierten Regisseur:innen gewidmet ist, die nach ihrem grossen Durchbruch weiterhin Kurzfilme drehen. Einer von ihnen ist ein langjähriger Freund des Festivals, der italienische Autorenfilmer Marco Bellocchio, der 1965 mit seinem Debütfilm Fists in the Pocket einen der Hauptpreise gewann.
Die Auszeichnung katapultierte Bellochio in die erste Liga des italienischen Kinos und in die internationale Anerkennung, und Fists in the Pocket gehört zu den Filmen, die am häufigsten auf dem Festival gezeigt wurden (fünf Mal bis 2015).
75 Jahre alt, aber im Herzen immer noch sehr jung, zollt das Festival der Kinogeschichte Tribut (beachten Sie die diesjährige Retrospektive von Douglas SirkExterner Link) und konsolidiert zukunftsorientierte Initiativen – nicht nur in der Technologie. Das Programm Open Doors beispielsweise bietet Filmemacher:innen aus Ländern, die nicht über eine angemessene Kinoinfrastruktur verfügen, Vernetzungsmöglichkeiten. Und nach drei Jahren, die sich auf Südostasien konzentrierten, beginnt ein neuer Zyklus mit lateinamerikanischen Filmemacher:innen.
Das Ziel ist es, Locarno inklusiver denn je zu machen. Eine Gemeinschaft, deren Präsenz über diese zwei Wochen im August hinausgeht, mit multimedialen Veranstaltungen während des ganzen Jahres und Kooperationen mit anderen renommierten Schwesterfestivals wie Venedig und Berlin.
Editiert von Eduardo Simantob. Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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