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35 Millimeter oder wie alte Film-Magie wieder auflebt

Riesiger Aufwand für die Kunst und die Filmfreundinnen und -freunde: Bild für Bild geht Davide Dalet die Filme auf Zelluloid durch, bevor das Filmfestival die analogen Originalformaten 35mm und 16mm vorführt. swissinfo.ch

Das Filmfestival Locarno zeigt im Rahmen seiner traditionellen Retrospektive jedes Jahr Dutzende von Filmen in den alten Formaten 35mm oder 16mm. Es ist ein bewusster Entscheid, um die analoge Filmkultur lebendig zu halten. Aber der Aufwand dafür ist immens. Kurz vor dem Festivalauftakt schaute swissinfo.ch den Spezialisten des Festivals über die Schulter, was es genau heisst, diesen Auftrag zu erfüllen.

Der Schauspieler Bud Spencer ist auf dieser Sequenz im Film «They call me trinity» («Die rechte und die linke Hand des Teufels») gut zu erkennen: Davide Dalet lässt den Filmstreifen durch seine Hände gleiten. Er trägt Handschuhe und hält jedes einzelne Bild gegen das Licht einer Lampe. Es erscheint wie ein Zauber. Er riecht am Streifen und untersucht ihn. Schliesslich legt er den Zelluloidstreifen wieder auf die Spule und nimmt sich die nächste Sequenz vor.

Bei diesem Prozess prüft er genau, ob sich zwischen einem Bild und dem nächsten kleine Mängel verbergen, etwa verblichene Farben, Kratzer, Risse oder fehlende Untertitel. So stellt Dalet sicher, dass alle 16mm- oder 35mm-Filme, die in LocarnoExterner Link gezeigt werden, sich in einwandfreiem Zustand befinden. 

Der Festivalstart steht kurz bevor. Und im Keller unter dem Palazetto Fevi wird intensiv gearbeitet. Allein für die Retrospektive, welche dieses Jahr dem westdeutschen Kino der NachkriegszeitExterner Link gewidmet ist, werden rund 60 Filme in den Formaten 35mm und 16mm gezeigt. Jeder Film zählt im Mittel sechs Rollen à 600 Meter. Das heisst, dass rund 250 Kilometer zu prüfen und auf Spulen montiert werden müssen. Dafür zuständig ist das Team von Marc Redjil, der die so genannte «print certification» verantwortet, gewissermassen das «Gut zur Projektion».

«Für jeden Film müssen wir ein Erfassungsblatt ausfüllen, das alle technischen Daten auflistet: Format, Projektionsgeschwindigkeit oder auch die Sprache der Untertitel. Auch eine Liste möglicher Defekte gehört dazu. Die gleiche Arbeit machen wir am Ende des Festivals, bevor wir die Filme an ihre Besitzer zurückschicken», erklärt Marc Redjil, der auch für das Filmfestival von Cannes in Frankreich tätig ist.

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Es ist eine intensive Fleiss- und Geduldsarbeit. Bei den in Locarno vorliegenden Filmen handelt es sich allesamt um Originale. Und wie bei jedem Kunstwerk müssen die Originale mit besonderer Sorgfalt behandelt und konserviert werden.

Emotionale und politische Gründe

Als sich vor gut 10 Jahren die Digitaltechnik in der Filmindustrie durchsetzte, fällte das Filmfestival Locarno einen wegweisenden Entscheid. Man wollte auf alle Fälle die Filme in dem Format zeigen, in denen sie gedreht worden waren. Anders gesagt: Die «alten» analogen Filmträger sollten weiterleben. Und dies auch für den Fall, dass eine restaurierte Kopie in digitaler Version existieren sollte.

«Es geht nicht nur darum, den Willen des Regisseurs zu respektieren, sondern auch um einen emotionalen Aspekt», sagt Carlo Chatrian, seit 2012 künstlerischer Direktor des Festivals. Zuvor verantwortete er über viele Jahre die Retrospektive in Locarno.

«Im Unterschied zur digitalen Filmdatei handelt es sich beim Filmstreifen um etwas Lebendiges, das atmet und das dem Zahn der Zeit unterworfen ist. In gewisser Weise erhalten die Zuschauer gerade dadurch, dass etwas nicht mehr perfekt ist, einen Eindruck von der Vergänglichkeit der Zeit.»

Starke Schweizer Präsenz

Das 69. Filmfestival Locarno findet vom 3. bis 13. August 2016 statt. Es kann auf eine starke Präsenz von Schweizer Filmen zählen.

Im Wettbewerb buhlen zwei Schweizer Werke um den Goldenen Leoparden: «Marija» vom jungen Regisseur Michael Koch und «La idea de un lago» der Schweiz-Argentinierin Milagros Mumenthaler. Im Programm auf der Piazza Grande wird die Schweiz mit «Moka» des Westschweizer Regisseurs Frédéric Mermoud vertreten sein.

Zudem laufen zwei mit Spannung erwartete Schweizer Filme ausserhalb des Wettbewerbs: Das Porträt von Jean Ziegler (von Nicolas Wadimoff) sowie «Un juif pour l’exemple» von Jacob Berger über die Schweiz und den Nationalsozialismus.

Folgende Schauspielerinnen und Schauspieler haben sich für die diesjährige Festivalausgabe angesagt: Stefania Sandrelli, Alejandro Jodorowsky, Bill Pullman, Ken Loach, Howard Shore, Valeria Bruni Tedeschi und Isabelle Huppert. 

Dazu kommt noch ein politisches Kriterium, indem aufgezeigt werden soll, dass ein Film im 35mm-Format nicht nur ein ästhetisches Vergnügen ist, sondern insbesondere auch einen kulturellen Wert darstellt. «In einer idealen Welt sind restaurierte und digitalisierte Kopien genau gleich wie das Original. Doch in Wirklichkeit geschieht dieser Prozess aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer mit der nötigen Sorgfalt, so dass ein Teil der Informationen verloren geht.»

die Jagd nach Ersatzteilen

Die Vorführung von analogen Filmen stellt für ein kleines Festival wie Locarno einen grossen Aufwand dar. Das beginnt mit den technischen Infrastrukturen. «Um einst einen Film zu zeigen, wurden die einzelnen, kleineren Spulen abgewickelt und der Film auf eine einzige, grosse Spule montiert», erklärt Elena Gugliuzza, Koordinatorin des Bereichs Bild und Ton.

In Locarno sei dies nicht möglich. «Da wir es mit Originalen zu tun haben, müssen wir notwendigerweise mit fünf oder sechs Spulen arbeiten. Daher sind auch zwei Filmvorführgeräte nötig. Wenn auf der Leinwand der klassische schwarze Punkt erscheint, müssen wir das zweite Gerät in Betrieb nehmen, und so geht es hin und her.»

Dazu kommt, dass als Folge des Verschwindens der Hersteller der Unterhalt der alten Filmprojektoren immer schwieriger und teurer wird. Ersatzteile werden nicht mehr serienmässig gefertigt. «Wir wissen nicht, ob wir in Zukunft überhaupt noch die nötigen Objektive und Lampen finden. Wir legen daher ein Reservoir an Ersatzteilen an, die wir weltweit auftreiben», sagt Elena Gugliuzza.

Mit der Technologie verschwindet auch Know how

Doch nicht nur die technischen Apparate werden rar, sondern auch das Know how, diese Maschinen zu bedienen: Das reicht von der Bearbeitung der Filme im Labor bis zur Aufführung im Kinosaal.

Die Retrospektive von Locarno wird traditionell im Kino Ex-Rex an der Piazza Grande gezeigt. In der kleinen Vorführkabine bringt Pierre Ebollo die beiden 35mm-Projektionsapparate nochmals auf Vordermann. Liebevoll geht er mit den Geräten um, doch bei dem lebhaften Kameruner macht sich keine Nostalgie breit.

«Die Berufe verändern sich und passen sich dem Neuen an, ohne das Alte zu vergessen», hält er fest. Pierre Ebollo kennt diese Maschinen, aber auch die digitalen, wie seine eigene Westentasche: «Seit den 1960er Jahren arbeite ich als Filmvorführer, zuerst in Kamerun, danach in Frankreich sowie auf Festivals in der ganzen Welt.»

Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland

In Partnerschaft mit dem Deutschen Filminstitut, Frankfurt am Main, zeigt das 69.Filmfestival von Locarno eine Retrospektive, die dem westdeutschen Kino der Nachkriegszeit von 1949 bis 1963 gewidmet ist. Laut Festivaldirektor Carlo Chatrian ist dieses Filmschaffen nur wenig bekannt. Die Filme zeigen seiner Meinung nach gut die Widersprüchlichkeit der Adenauer-Jahre auf; auf der einen Seite die Regisseure, die sich der schwierigen Vergangenheit stellen; auf der anderen Seite Regisseure, die Hollywood nacheifern.

Die Retrospektive besteht aus 73 Filmen. Zu sehen sind Streifen von bekannten Regisseuren wie Fritz Lang und Robert Siodmak, die in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, um ihre letzten Filmen zu drehen. Aber es gibt auch weniger berühmte Filme, welche gleichwohl für die deutsche Filmgeschichte von grosser Bedeutung sind.

Mit dieser deutschsprachigen Retrospektive will Chatrian auch dem treuen Deutschschweizer Publikum ein Geschenk machen. Jedes Jahr kommen sehr viele Gäste aus der deutschen Schweiz zum Filmfestival von Locarno. 

Tatsächlich können die Filmfestivals noch auf einen gewissen Stamm an Personen zurückgreifen, die in der Lage sind, die alten Geräte zu bedienen. Doch was passiert in Zukunft? Weder in der Schweiz noch in anderen Ländern gebe es noch Ausbildungen für Filmvorführer von 35mm-Filmen, hält Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse, fest.

«Diese Entwicklung ist sehr problematisch», meint der Leiter des nationalen Schweizer Filmarchivs. Denn eine kleine Manipulation oder eine schlecht eingestellte Maschine könne dazu führen, dass ein Kunstwerk zerstört werde.

Genau aus diesem Grund denkt der Internationale Verband von Filmarchiven (FIAF) darüber nach, eine Ad-hoc-Ausbildung auf die Beine zu stellen. «Die Filme auf Zelluloid stellen einen Nischenmarkt dar, aber sie sind noch längst nicht ausgestorben», betont Maire.

Weiterleben in der Nische

Tatsächlich gibt es nicht nur historisches Material, das fast ein Jahrhundert Filmgeschichte darstellt. Es gibt auch noch immer noch Regisseure, die ihre Werke in analoger Technologie drehen. In Cannes und Berlin genauso wie in Locarno sind regelmässig zeitgenössische Werke zu sehen, die ganz bewusst in diesem Format gedreht wurden.

Quentin Tarantino hat seinen Western «The Hateful Eight» (2015) gar auf 65mm-Film im Format Ultra Panavision 70Externer Link gedreht. Um diesen Film zu zeigen, mussten einige Kinos in den USA und Europa entsprechende Geräte installieren. Einer der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit hat damit ein Zeichen gegen die digitale Filmtechnik gesetzt.

Und das Publikum? Carlo Chatrian hat keine Zweifel: «Beim Filmfestival haben wir sehr bewusste Zuschauer, die bei einem 35-mm-Streifen einen zusätzlichen Genuss empfinden.» Die leicht wackelnden Bilder und das Surren der Vorführmaschine lassen Filmfreunde immer noch träumen – zumindest während der Zeit eines Festivals.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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