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Lokführer als Vater des Bündner Unesco-Kulturerbes

Jean-Michel Berthoud/swissinfo.ch

Die Albula- und Bernina-Strecke der Rhätischen Bahn (RhB), die von Chur über St. Moritz nach Tirano, Italien, führt, zählt seit Juli 2008 zum Weltkulturerbe. Die Idee zur Bündner Bewerbung bei der Unesco stammt vom Churer Lokomotivführer Gion Rudolf Caprez.

Dass einer, der an der ETH Zürich Physik studiert hat, im Führerstand bei der «kleinen Roten», der grössten Schmalspurbahn der Schweiz, landet, mag erstaunen. «Für mich war es einfach eine Umorientierung», sagt RhB-Lokführer Gion Rudolf Caprez gegenüber swissinfo.

Für die RhB sei er 1980 der erste Lokomotivführer-Anwärter gewesen, der nicht die geforderte Elektriker- oder Mechanikerlehre mit sich gebracht habe, sondern einen Matura-Abschluss und ein Physik-Diplom. «Das halte ich der RhB zugute, dass sie das Experiment gewagt hat, einen Studierten in einen Handwerker umzuwandeln.»

Ein Bubentraum

Dass Caprez bei der RhB landete, kommt allerdings nicht von ungefähr. Seine Grossmutter wohnte in Chur direkt neben den Geleisen, und wenn er dort zu Besuch war, schaute klein Gion dem Treiben der Bahn zu. «Mit meiner Trillerpfeiffe imitierte und irritierte ich manch einen Bahnmitarbeiter beim Rangieren», lacht er.

Als Gymnasiast und während des Studiums jobbte Caprez als Minibar-Verkäufer und Hilfskellner in RhB-Speisewagen. Dabei wuchs die Faszination für die Bahn noch mehr und schliesslich so sehr, dass er sich im Sommer 1980 bei der RhB als Lokführer bewarb.

Als Lokführer erlebe man Supertage. «Es gibt Tage, da fühle ich mich eins mit meiner Maschine, eins mit der Landschaft, eins mit den Passagieren», so Caprez. «Ich freue mich, wenn ich in einer Kurve im Rückspiegel die vielen Köpfe sehe, die aus den Wagenfenstern schauen.»

Daneben sei es natürlich auch eine Arbeit in einer industriellen, regulierten Umgebung, wo man nicht immer so viel Freiraum habe. «Oft geht der Beruf über die persönlichen Bedürfnisse und jene der Familie.»

Ein halbes Jahr zu Fuss auf den RhB-Geleisen

Caprez beschränkte seinen Blick aus dem Führerstand von Beginn an nicht nur auf die schöne Landschaft. In seiner Freizeit erkundete er die bahnhistorischen Zeugnisse zwischen Chur, Tirano, Disentis und Davos. Und dann kam die «verrückte» Idee: 1997 liess er sich beurlauben, um das ganze Streckennetz der RhB (rund 400 Kilometer) abzuwandern und industriegeschichtlich zu dokumentieren.

«Auf die Idee kam ich bei meiner Beschäftigung mit der Industriekultur, der Denkmalpflege, wo Inventare eine grosse Rolle spielen. Darum ist die Erstellung eines Inventars von einzelnen Bauten keine so ‹verrückte› Idee», betont Caprez.

Während einem halben Jahr marschierte Caprez, ausgerüstet mit einem Fotoapparat und einem Tonbandgerät für die Notizen, entlang sämtlicher Streckenabschnitte. Als RhB-Angestellter hatte er die nötigen Prüfungen bestanden, um auf den Geleisen laufen zu dürfen. «Ich war Bahnangestellter, Sicherheitswärter und Historiker unter einem Hut.»

Caprez marschierte unter oder auf Brücken, statt durch den Tunnel über den Hügel. «Ich habe mehr Kilometer Bahnstrecken abgelaufen, als die RhB fährt», lacht er.

RhB über Weltkulturerbe-Idee zuerst nicht begeistert

In den 90er-Jahren las Caprez einen Unesco-Aufsatz mit dem Titel «Eisenbahnlinien als mögliche Welterbe-Stätten». Die RhB war darin nicht erwähnt. «Ich war sehr enttäuscht. Da begann der Wurm in mir zu bohren.»

In Gesprächen mit an Kultur interessierten Leuten und der Denkmalpflege im Kanton Graubünden brachte Caprez die Idee auf, dass auch die RhB in die Liste der Weltkulturgüter passen würde. 2001 beauftragte der Bündner Regierungsrat die Denkmalpflege, erste Abklärungen vorzunehmen. Der Auftrag wurde an Gion Rudolf Caprez weitergeleitet.

Caprez freute sich über die Entwicklung seiner Idee. «Es hätte sich aber auch ein stilles Begräbnis entwickeln können», sagt er. «Die RhB-Führung musste man überzeugen, dass das Unesco-Welterbe-Projekt keinen Schaden anrichtet, sondern eine Auszeichnung ist.» Die Bahn habe zuerst befürchtet, «unter Denkmalschutz» gestellt zu werden: «Wir sind doch kein Museum, wir sind ein Unternehmen.»

Mittlerweile hat die RhB gemerkt, dass eine Unesco-Auszeichnung auch für das Marketing gut ist. «Denn auf der RhB-Website ist immer auch ein Link zum Unesco-Kulturerbe da», schmunzelt Caprez. «Wir sind auch ein Kulturgut» – dieser Satz gehöre heute zum Kernverständnis der RhB.

Landschaft, Bauten, Technik und Menschen

Die Strecke «Rhätische Bahn in der Landschaft Albula/Bernina» wurde am 7. Juli 2008 in die Weltkulturerbeliste aufgenommen. Für Caprez eine Anerkennung für die aussergewöhnliche Leistung der RhB, in dieser Landschaft eine so qualitätsvolle Eisenbahnlinie gebaut und 100 Jahre betrieben zu haben.

«Die Landschaft gehört dazu, der Tourismus als Auslöser des Bahnbaus und natürlich vor allem die Steinbauten, die Bogenbrücken der Albula-Linie und die Lösung der offenen Alpenüberquerung der Bernina-Linie.»

Zur Einzigartigkeit der RhB gehöre aber auch die Faszination, die sie auf die Menschen ausübe: «Von den Erbauern über meine Kollegen in den letzten 100 Jahren, die sie betrieben haben, bis zur Faszination auf alle Touristen, die jedes Jahr mit uns fahren», schliesst Caprez.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch, Chur

Gion Rudolf Caprez wurde 1954 in Chur geboren.

Er wuchs in Chur auf und besuchte dort die Schulen bis zum Abschluss der Mittelschule 1974.

Nachher Studium der Physik an der Eidg. Technischen Hochschule (ETH) in Zürich.

Ab 1980 Beginn als Handwerker bei der Rhätischen Bahn (RhB) und ab 1985 RhB-Lokführer.

Er wohnte in Landquart, Chur, Samedan und später wieder in Chur, wo Caprez heute mit seiner Frau und zwei Töchtern lebt.

Die Albula- und Bernina-Strecken der Rhätischen Bahn (RhB) sind ein gutes Beispiel einer Eisenbahn-Linie, mit der die Isolierung der Alpen durchbrochen werden konnte.

Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Bahnlinie waren einschneidend für die Bergbevölkerung. Sie ermöglichte einen kulturellen Austausch und veränderte die Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Die Bahnlinie selber hat sich äusserst harmonisch in das landschaftliche Ganze der Alpenregion eingefügt.

Unesco-Welterbe ist aber nicht nur die Bahninfrastruktur, sondern auch die angrenzende Landschaft.

Dabei wird unterschieden zwischen der Kernzone, welche die Bahnlinien umschreibt, und drei Pufferzonen mit der Kultur- und Naturlandschaft.

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