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Luciano Barisone enthüllt seine Visionen

Ein Film will ein Gefühl der Welt erfassen. Visions du Réel

Am Donnerstag beginnt in Nyon eines der weltweit wichtigsten Dokumentarfilm-Festivals. Es steht zum ersten Mal unter der Leitung des Italieners Luciano Barisone, der aus seinem Lampenfieber keinen Hehl macht. Er plädiert für Vielfalt und Mut.

Der 1949 geborene Luciano Barisone, ehemaliger Journalist und Kritiker, hat Monographien über Clint Eastwood oder Sidney Pollak verfasst. Er gründete das Infinity Festival d’Alba, hat für die Internationalen Filmfestspiele von Venedig gearbeitet. Vor Nyon, das er seit vielen Jahren aufmerksam verfolgt, war Barisone künstlerischer Leiter des Festival dei Popoli in Florenz.

Sein Vorgänger Jean Perret ist nun Chef der Abteilung Film an der Hochschule für Kunst und Design in Genf.

swissinfo.ch: Was für Gefühle haben Sie vor Ihrer ersten Ausgabe von Visions du Réel?

Luciano Barisone: Ich verspüre den Wunsch, die Früchte unserer fast fünf-monatigen Selektionsarbeit auf die Leinwand zu bringen. Gleichzeitig macht sich auch ein gewisses Lampenfieber breit, das man gewöhnlich hat, wenn man eine Bühne betritt. Aber da wir bis hierher gekommen sind, werden wir auch das überleben… (lacht).

swissinfo.ch: Was war Ihr Ansatz bei der Selektion der Filme?

L.B.: Mein Ansatz respektiert jenen meines Vorgängers Jean Perret. Wichtig für uns ist die Form des Erzählens, nicht nur das Thema, mit dem sich die Geschichte befasst. Ein Film, wie jede Form von Erzählung oder Kunst, wird hauptsächlich durch die Form erhalten. Ich nehme als Beispiel die Mona Lisa. Das Subjekt ist eine Frau, aber das Bild, das ist die Mona Lisa.

Die weiteren Kriterien sind ethischer Natur. Wir präsentieren Filme, die – auch wenn der Wunsch besteht, aus der Realität eine Art Show zu machen -, Respekt zeigen für die Menschen, die gefilmt wurden, aber auch für das Publikum. Die Betrachter müssen sich als verantwortliche Personen sehen, nicht als Kinder, die man hinters Licht führt.

swissinfo.ch: Sehen Sie sich eher in der Kontinuität der Arbeit von Jean Perret, oder machen Sie eher eine Zäsur?

L.B.: Es gibt sowohl Kontinuität wie auch Innovation. Jeder von uns bringt seine eigenen Erfahrungen mit. Ich will mit dem Bisherigen nicht brechen, will das Festival jedoch um ein paar Grad dezentralisieren.

Kino war für mich immer ein Mittel, die Welt zu entdecken. Für mich ist klar: Durch das Festival kann man die Welt entdecken. Nicht nur die physische Welt, sondern auch die Welt als Ort der Besinnung und des Geistes.

swissinfo.ch: Gibt es einen Film, der Ihrem Ansatz beispielhaft entspricht?

L.B.: Fast alle, würde ich sagen (lacht). Ich komme zurück auf das Festival des vergangenen Jahres: Der Film, der den grossen Preis gewann, Into Eternity, nimmt vorweg, was heute geschieht. Er lenkte enorme Aufmerksamkeit auf die Atomfrage und deren mögliche Gefahren. Das Festival präsentiert Filme, die den Zustand der heutigen Gesellschaft tiefgreifend beschreiben.

In diesem Jahr sind die Filme Abendland, Mercado de Futuros und Sonnensystem Werke, die sich nicht auf eine Geschichte konzentrieren. Sie versuchen, ein Gefühl der heutigen Welt einzufangen.

In Abendland ist es die Tatsache, dass wir uns eine Art Festung bauen, von der Geburt bis zum Tod. Ein Ort, der uns gegen Aussen schützt. Aber wir sind auch Gefangene. Eine Art von Konzentrationslager. Dies ist jedenfalls das Gefühl des Regisseurs Nikolaus Geyrhalter gegenüber dem Westen.

Sonnensystem von Thomas Heise spricht über den Verlust der Vielfalt. Das Verschwinden von kleinen Gemeinden und Minderheiten-Kulturen, das sich abspielt. Es geht um die Globalisierung von Geist und Materie, die zum Verschwinden von Unterschieden führt.

Mercato de Futuros widmet sich dem Gedächtnisverlust. Wir leben heute in einem System, wo das Gedächtnis verachtet und vergessen wird. Man spricht nur noch von der Zukunft. Aber von welcher Zukunft?

swissinfo.ch: Aus diesem Blickwinkel betrachtet: Spielt da ein Festival wie Visions du Réel eine Rolle?

L.B.: Ich denke ja. Visions du Réel zeigt die Filme und erlaubt die Begegnung mit ihnen. Es ist auch ein Markt, der die Präsentation der Filme ermöglicht. Für mich sind beide Aspekte sehr wichtig. Ich glaube, dass das Publikum diesen Reflexionsraum, in dem man sich trifft, schätzt. Das ist auch meine Hoffnung.

Ich denke, die Zuschauenden haben Lust, sich zu begegnen, ins Kino zu gehen. Mehr als bei sich eingegrenzt zu sein und eine DVD oder eine Fernsehsendung anzuschauen. In schwierigen Zeiten haben die Menschen ein Bedürfnis, sich zu treffen, glaube ich.

swissinfo.ch: In welcher Stimmung sollte sich das Publikum nach dem Besuch dieser 17. Ausgabe der Visions du Réel Ihrer Ansicht nach befinden?

L.B.: Ich wünsche mir, dass es ein Verantwortungsbewusstsein für die Welt und deren Vielfalt entwickelt hat. Und dass es Lust bekommt, sich für dieses Dinge einzusetzen. Ich hoffe, die als Vorbild dienenden Filme machen dem Publikum Mut.

Ich setze mich ein für diese Unterschiede. Meiner Ansicht nach entsteht der Reichtum aus der Vielfalt. Aber Globalisierung und Uniformierung gehören zur dunklen Seite. Dort gibt es keine Entdeckungen mehr. Die Welt löst sich auf.

Die 17. Auflage des Festivals Visions du Réel bringt vom 7. bis 13. April 180 Filme zur Aufführung.

95% der Wettbewerbsfilme werden als Weltpremiere gezeigt, 5% als Schweizer Premiere. Die Preisverleihung findet am 13. April statt.

Der Wettbewerb ist in drei Sektionen unterteilt:


Helvétiques: Eine Auswahl von Schweizer Filmen, im Format abendfüllend, mittellang oder kurz, präsentiert als Weltpremiere, als internationale, europäische oder Schweizer Premiere.

 
First Steps: Erstlingsfilme im Kurzformat, von Autodidakten oder Schulabgängern, präsentiert als Schweizer Premiere.

Die Sektion «Regard neufs» verschwindet. Sie wird ersetzt durch «Port franc», «Fokus», der sich auf Kolumbien konzentriert, und «Etat d’Esprit», welche die besten Filme aus internationaler Produktion als Schweizer Premiere zeigen.

Die beiden traditionellen Workshops werden geleitet von José Luis Guerin, Motor der jungen Garde des spanischen Kinos, und dem Amerikaner Jay Rosenblatt, der altes Material überarbeitet.

Visions du Réel ist das erste Film-Festival der französischen Schweiz. Es gehört mit Locarno und Solothurn zu den bedeutendsten des Landes.

Das Budget beträgt 2,5 Mio. Franken, 400’000 davon bezahlt der Bund.

Seit 1995 besteht es in seiner aktuellen Form. Es präsentiert ein Kino, das im direkten Kontakt mit der Realität steht, das die Grenzen des strikt Dokumentarischen überschreitet.

Vision du Réel ist auch ein

Treffpunkt für europäische Film-Produzenten und Vertreiber.

Der Markt Doc Outlook

bietet eine breite Filmpalette an.

(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)

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