Lucienne Peiry, «Ritterin» der Art Brut

Ende März ernannte das französische Kulturministerium die Lausannerin Lucienne Peiry zum "Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres". Diese Auszeichnung ist eine Belohnung für 40 Jahre Forschung, Ausstellungen, Veröffentlichungen und die Aufwertung der Art Brut.
Sie erinnert an eine Amazone, so sehr ist ihre Kühnheit mit ihrer Persönlichkeit verbunden. Das Bild eines Ritts wird bei dieser Kunstkennerin nicht überstrapaziert.
Lucienne Peiry erhielt im März dieses Jahres die angesehene Auszeichnung «Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres» (Ritter des Ordens der Künste und der Literatur) für ihren «Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt».
Das französische Kulturministerium, das ihr dieses Abzeichen verleiht, würdigt damit ihre Verdienste. Sie freut sich natürlich darüber, zieht es aber vor, sich «Chevalière» zu nennen.
«Oh! Das Ministerium wird es verstehen», sagt sie humorvoll im Gespräch mit SWI swissinfo.ch.
Die Art-Brut-Expertin, die sowohl in der Schweiz wie auch weltweit zu den führenden Fachleuten dieser Stilrichtung gehört, sprach ausführlich über ihr Berufsleben. Fast 40 Jahre im Dienst dieser Kunstrichtung verleihen ihr eine unbestreitbare Autorität.
Ihr Feuer lodert immer noch
Lucienne Peiry wurde 1961 geboren. Ihr Elan ist ungebrochen. Sie hat sich eine entwaffnende Energie bewahrt, die sie mit einem Lachen sagen lässt: «Da ich Ritterin bin, werde ich meinen Ritt fortsetzen.»
Ihr Terminkalender ist voll, ihr Leben voll von Projekten: In den nächsten Monaten stehen Vorträge an, ein Buch über Schmuck in der Art Brut muss noch fertiggestellt werden, und es gibt noch so viele Kunstschaffende auf allen Kontinenten zu entdecken.
«Ich habe gerade Leute kennengelernt, die im Iran leben. Dort gibt es viele kreative Menschen», sagt sie. Wird sie für ihre Forschung in den Iran gehen? «Ich weiss, dass die Art Brut noch nicht am Ende ist», antwortet sie.
Peiry hat ihre Geheimnisse, aber ihre Leidenschaft für ihren Beruf ist unverkennbar. Zehn Jahre lang, von 2001 bis 2011, leitete sie mit grossem Geschick die Collection de l’Art Brut (CAB) in Lausanne.
Tatsächlich begann ihr «Ritt» lange bevor sie 1998 in Genf ihre erste Ausstellung über Art Brut organisierte, die später in Sydney, Weimar und Brüssel gezeigt wurde.
Peiry war die erste Frau, die an der Universität Lausanne in Kunstgeschichte promoviert hat. Sie ist nicht nur eine unermüdliche Forscherin, sondern auch eine unermüdliche Reisende. Ihre ständige Begleiterin? Eine grenzenlose Neugier.
Die Welt in Lausanne willkommen heissen
Nachdem sie die Leitung der CAB übernommen hatte, setzte sie ihre Recherchen und Reisen fort und bereicherte die Institution mit Hunderten von Werken, die sie in der ganzen Welt erworben hatte.
Unter ihrer Leitung wurden zahlreiche Ausstellungen in der Schweiz, in mehreren europäischen Ländern und in Japan organisiert.

Hat sie durch die Art Brut die Stadt Lausanne in die Welt exportiert und die Welt in Lausanne willkommen geheissen? «Ich habe einfach versucht, diese Kunst zu verbreiten», antwortet sie.
«Ich möchte daran erinnern, dass die Schweiz bei der Verbreitung der Art Brut eine wichtige Rolle spielt, und das aus gutem Grund: Die Sammlung ist das erste Museum der Welt, das dieser Kunstform gewidmet ist», so Peiry.
«Die CAB wurde 1976 auf Anregung des französischen Künstlers Jean Dubuffet gegründet, der ein grosser Sammler von Art Brut war und 1971 seine gesamte Sammlung der Stadt Lausanne vermachte.»
Eine Gabe, die Lucienne Peiry zu schätzen wusste, als sie die Nachfolge von Michel Thévoz antrat, dem ersten Direktor der CAB.
«Die zehn Jahre an der Spitze dieser Institution waren für mich eine sehr interessante Zeit, an die sich noch drei Jahre als Direktorin für Forschung und internationale Beziehungen anschlossen.»
Reisen, Konferenzen, Kolloquien, Veröffentlichungen und vor allem der Austausch mit zahlreichen Besuchenden und Kunstschaffenden verschiedener Nationalitäten. Ein grosser Reichtum, das Ergebnis einer aufmerksamen Forschungsarbeit.
Davon zeugt auch die Ausstellung, die derzeit im Musée international de la Réformation in Genf unter dem Titel «L’invisibilité visée. L’art Brut et l’au-delà» zu sehen ist.

Die Schweiz, eine Insel der Ausnahmen und Exzentrizität
«Was ich von meinem internationalen Austausch mitnehme, ist das aussergewöhnliche Interesse, das Art-Brut-Kunstschaffende, die nicht der Norm entsprechen und sogar Dissidenten sind, im Ausland wecken. Ich weiss, dass die CAB in der Schweiz sehr gut besucht ist», sagt Peiry.
«Wenn ich Ausstellungen in Europa oder Asien organisiere, stelle ich fest, dass die Art Brut eine gewisse Verwirrung auslöst, weil die gezeigten Werke in den Augen des Publikums so neu sind. Sie sind seltsam schön und üben eine starke Anziehungskraft aus.»
Wie die Schweiz von aussen betrachtet: ein aussergewöhnliches Land. «Es ist nicht verwunderlich, dass die Art Brut in der Schweiz blüht, einer Insel der Ausnahmen und Exzentrizität», so Peiry.
Ihre ersten künstlerischen Erfahrungen sammelte sie an der Schweizerischen Landesausstellung 1964: «Ich war mit meinen Eltern dort, als ich drei Jahre alt war. Dort entdeckte ich die berühmte ‹Tinguely-Maschine›. Seitdem bewundere sie Jean Tinguely, erzählt sie. Eine Schicksalsbegegnung!
«Es wird nicht oft genug erwähnt, aber Tinguely war ein grosser Sammler von Werken der Art Brut. Später wurde er Mäzen einer meiner Publikationen, eines Essays über Giovanni Battista Podestà.»
Ein italienischer Künstler, den Peiry wie so viele andere beleuchtet hat. Sie reiste sogar bis nach Indien, um diese Künstlerinnen und Künstler am Rand der Gesellschaft aufzuspüren.
Chandigarh
Zu diesen gehört Nek Chand mit seinem «Königreich», auch Rock Garden genannt. Ein märchenhafter Steingarten in der Nähe von Chandigarh, der Stadt, die Le Corbusier erbaut hat.
Es ist ein erstaunlicher Zufall, dass der Schweizer und der Inder heute Seite an Seite stehen und doch durch diametral entgegengesetzte Stile voneinander getrennt sind.
«So strukturiert das Werk von Le Corbusier ist, so überbordend ist das von Nek Chand», sagt die Frau, die sich einmal hundert Skulpturen aus dem Garten des indischen Künstlers ausgeliehen hat.
Sie liess sie aus Chandigarh kommen, um sie in Europa auszustellen. Das war 2005. Die Ausstellung war ein grosser Erfolg und wurde von einem Dokumentarfilm und einer Publikation begleitet.
Ungewöhnlicherweise wurde die Ausstellung gleichzeitig in vier Ländern gezeigt: in der Schweiz, in Frankreich, in Italien und in Belgien.
Mit jedem neuen Projekt hat Lucienne Peiry den Horizont der Sammlung erweitert. Aber ihr «Ritt» ist noch nicht zu Ende, wie sie sagt. Weitere Eroberungen warten auf sie.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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