Mao auf Halbmast
Mao Zedongs Tod läutet eine geopolitische Zeitenwende ein, bei der auch die Schweiz nicht abseits stehen will. Doch der Schweizer Botschafter Heinz Langenbacher bleibt skeptisch gegenüber dem "Superioritätsgefühl" der Chinesinnen und Chinesen.
Der «Grosse Vorsitzende» ist tot. Am 9. September 1976 stirbt Mao Zedong. Feierlich wird sein Leichnam in der Grossen Halle des Volkes in Beijing aufgebahrt. Hunderttausende Chinesinnen und Chinesen nehmen Abschied. Auch das ausländische diplomatische Corps erweist Mao die letzte Ehre. Der Schweizer Botschafter Heinz Langenbacher überlässt in seinem Tagebucheintrag vom 14. September seinem Sohn das Wort, der ihn begleitet. «Sein Gesicht erscheint jung, fast etwas weiblich weich», beschreibt der Diplomatensohn den toten Führer.
Auch an «Schneewittchen im Glassarg» fühle er sich erinnert.
«Brauner Teint, dichtes schwarzes Haar, wohl nachgefärbt. Die Ruhe und die fast magische Unberührbarkeit der Gesichtszüge zogen einen unwillkürlich in ihren Bann.» Der junge Mann schämt sich ein wenig über die «lächerlichen Gedankenfetzen», die ihm vor der Bahre «wie ein Schwarm aufgescheuchter Fische» durch den Kopf wirbeln: «Ein liegender Buddha, stoisch jenseits von Gefühl und Zeit, Ahnenkult und der Besuch im Wachsfigurenkabinett.» Auch an «Schneewittchen im Glassarg» fühle er sich erinnert.
Geopolitische Zeitenwende
Die Zeitenwende, an der Botschafter Langenbacher und sein Sohn Anteil nehmen, markiert auch den Auftakt zum bis heute andauernden chinesischen Wirtschaftsmärchen. Das Ableben Maos setzt einen Schlussstrich unter die grossen Massenkampagnen der Kommunistischen Partei zur Zerschlagung der bisherigen Gesellschaftsordnung, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der forcierten Industrialisierung sowie der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution», die Millionen von Todesopfern forderten, und ebnet den Weg für eine wirtschaftliche Reform- und Öffnungspolitik.
Unmittelbar nach Maos Tod ist diese Entwicklung jedoch alles andere als gewiss. Auch als Botschafter Langenbacher Beijing im März 1977 verlässt, ist vieles noch unklar. Auch nach den Schauprozessen gegen die sogenannte » Viererbande» scheint die weitere Entwicklung innerhalb des Machtapparats alles andere als stabil. «Nichts lässt darauf schliessen, dass die Intrigen und Komplotte, die die bewegte Geschichte des vergangenen Jahrzehnts so sehr charakterisiert haben, ein Ende finden», analysiert die Botschaft.
Dennoch betont Langenbacher bei seinem Abschied, die Zukunft Chinas erscheine ihm «nach den dramatischen Ereignissen des Jahres 1976» nun «lichter und klarer denn je». «Dieser Optimismus wird sich auch auf dem Gebiet der bilateralen Beziehungen auswirken und neue Möglichkeiten eröffnen», prognostiziert er die neuen Handlungs-Spielräume, die sich durch die Politik der Öffnung unter der sich Ende 1978 festigenden Führung Deng Xiaopings ergeben werden.
Halbmast
In der rigide antikommunistisch geprägten Schweiz fallen die Reaktionen auf den Hinschied der herausragenden Gründungsfigur der Volksrepublik gemischt aus. Bezeichnenderweise wäre der Regierung in der Frage des Flaggenzeremoniells um ein Haar ein Fauxpas unterlaufen.
Am 14. September 1976 bemerkt der schweizerische Aussenminister, Bundesrat Pierre Graber, mit Befremden, dass die Schweizer Fahne auf dem Bundeshaus nicht, wie dies beim Ableben ausländischer Staatschefs üblich ist, auf halbmast gesetzt wurde. Der Protokollchef sieht im Ableben Maos – der nicht amtierender Staatspräsident Chinas war, sondern offiziell nur den Vorsitz der Kommunistischen Partei innehatte und die Zentrale Militärkommission präsidierte – keinen Anlass gegeben, eidgenössische Kondolenzmassnahmen zu ergreifen.
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Graber weist seinen Beamten wegen dieser «zu rigiden Auslegung des protokollarischen Reglements» brüsk in die Schranken. Dieser Mangel an Courtoisie stehe im Gegensatz zu den Beileidsbekundungen aus aller Welt und könne schwere politische Konsequenzen für das bilaterale Verhältnis zu Beijing nach sich ziehen. «Ich bitte sie deshalb, die nötigen Massnahmen zu ergreifen», wies Graber den Protokollchef an, «damit am Tag der offiziellen Trauerfeierlichkeiten vom kommenden 18. September die Fahne auf halbmast gesetzt ist und das diplomatische Corps darüber zu informieren.»
Die Schweiz – eine nahe Verbündete Chinas?
Bundesrat Graber hat bereits im Herbst 1971 in einer Grundsatzrede vor dem diplomatischen Corps – unter dem Eindruck des Besuchs Henry Kissingers in Beijing sowie der anstehenden Chinareise von US-Präsident Richard Nixon – erkannt, dass «das Gravitationszentrum der Weltpolitik sich von Europa nach Asien verschiebt» . China werde künftig in der internationalen Politik wieder eine Rolle spielen, «die seinem geografischen und demografischen Gewicht entspricht».
Nach den Zerrüttungen der «Kulturrevolution» hoffen die Schweizer Handelsdiplomaten auf eine Normalisierung der Beziehungen und schwärmen von einem künftigen Absatzmarkt im «riesigen chinesischen Reich mit seinen 800 Millionen potentieller Kunden».
Schweizer Handelsdiplomaten schwärmen von einem künftigen Absatzmarkt im «riesigen chinesischen Reich mit seinen 800 Millionen potentieller Kunden».
Im August 1974 reist Graber zur Eröffnung einer «Swiss Industrial Technology Exhibition» in Beijing als erster Bundesrat überhaupt nach China. Schon im Dezember 1974 wird ein Handelsabkommen zwischen der Eidgenossenschaft und der Volksrepublik unterzeichnet.
Im April 1975 begleitet Bundesrat Willi Ritschard den Jungfernflug der Swissair von Zürich nach Beijing. «Wir sind fast Albaner» , schreibt Langenbachers Vorgänger als Botschafter in China, Albert Natural. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua ergebe sich solcher Lobpreisungen über die Schweiz, wie sie sonst nur gegenüber dem einzigen Verbündeten der Volksrepublik in Europa, dem kommunistischen Regime Enver Hoxhas in Tirana, üblich seien.
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«Wir sind fast Albaner»
Heinz Langenbacher bleibt dagegen während seiner kurzen Dienstzeit in Beijing ein Skeptiker, was die chinesischen Elogen auf helvetische Neutralität und Wehrhaftigkeit, die Genugtuung über die frühe Anerkennung der Volksrepublik durch die Schweiz 1950, das Herausstreichen vermeintlich gemeinsamer Mentalitätsmerkmale mit dem «old friend» wie Pragmatik, Qualitätsdenken und Perfektionismus betrifft – dies alles sei «hübsche Garnitur».
Für die chinesischen Kommunisten bleibe die Schweiz ein Teil der kapitalistischen Welt, die unweigerlich dem Untergang geweiht sei. Abgesehen vom wirtschaftlichen Nutzdenken, dem Abschöpfen von technologischem Know-how sowie dem Interesse am internationalen Genf als Drehscheibe sei die Schweiz «für China ohne grosses Interesse».
Bei den politischen Chefs in Beijing herrschten beängstigende Kenntnislücken über den Westen, so der Diplomat. Die Chinesinnen und Chinesen mit ihrem «oft schlecht getarnten, jahrhundertelangen Superioritätsgefühl» würden sich über das Ausland oft schlicht foutieren.
Die liebenswürdige Gastfreundschaft vermöge nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Chinesen «uns Ausländer und ‹fremden Teufel›, ‹Rundaugen› und ‹Langnasen› heute ebenso wenig wie vor 100 oder 500 Jahren» liebten. Langenbacher sah es als eine seiner Hauptaufgaben, sich in stetem Kampf gegen Frustration und Resignation zu bemühen das chinesischen Misstrauen gegenüber dem Fremden zu zerstreuen.
Als sich mit der wirtschaftlichen Öffnung der Volksrepublik nach Maos Tod die Zahl schweizerisch-chinesischen Kontakte multipliziert, mehren sich auch die Akteurinnen und Akteur, die sich um eine gegenseitige Verständigung bemühen. So gelingt es 1980 dem Schweizer Lifthersteller Schindler als erstem ausländischen Unternehmen, ein Joint Venture mit einer chinesischen Firma einzugehen.
Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz. Die zitierten Dokumente sind online verfügbar.Externer Link
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