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«Mehr Geld für mutigere Filme»

Eduard Melzer

Das Schweizer Filmschaffen bräuchte mehr Mittel, um auch gewagtere Streifen produzieren zu können. Diese Meinung vertritt Seraina Rohrer, Direktorin der Solothurner Filmtage. Sie leitet zum zweiten Mal dieses Filmfestival, das sich dem Schweizer Filmschaffen widmet.

Eine energiegeladene und spritzige Seraina Rohrer (35) empfängt uns in den Räumlichkeiten des Solothurner Festivals, einer alten Garage, die in eine kulturelle Werkstatt umgebaut wurde.

Was ist ihr Ziel? Rohrer will, dass das Schweizer Publikum das einheimische Filmschaffen entdeckt.

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Das Herz beim Film, aber beide Beine auf dem Boden

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Die Schauspielerei war für mich Liebe auf den ersten Blick. Schon als kleines Mädchen verzauberten mich die Schauspieler im Theater. Und ich träumte davon, neben ihnen auf der Bühne zu stehen. Ich liebe es, in die Rolle einer anderen Person zu schlüpfen und deren Persönlichkeit auszuloten. Manchmal habe ich das  Gefühl, dass ich mich besser…

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swissinfo.ch: Sie leiten seit zwei Jahren die Solothurner Filmtage, das Fenster für das Schweizer Filmschaffen. Gibt es das überhaupt, das Schweizer Filmschaffen?

Seraina Rohrer: Meiner Meinung nach kann man nicht pauschal vom Schweizer Filmschaffen sprechen, sondern eher vom Filmschaffen der Schweizer. Dieses Filmschaffen ist Teil einer recht kleinen Realität, die gleichwohl in Bezug auf Inhalte und Stile sehr vielfältig ist.

Es handelt sich in erster Linie um Autorenfilme. Dabei dominieren die Dokumentarfilme, doch es gibt auch einige sehr gute Spielfilme. Der Schweizer Film erzählt Geschichten aus der ganzen Welt, die häufig an die eigenen Traditionen anknüpfen. Das Schweizer Filmschaffen ist sehr facettenreich, genauso wie seine Regisseure und sein Publikum.

swissinfo.ch: Häufig schaffen es Schweizer Filme nicht, in den jeweils anderssprachigen Landesteilen gezeigt zu werden. Steckt dahinter ein kulturelles Problem oder ein Problem der Verleiher?

S.R.: Ich denke nicht, dass es sich um ein kulturelles Problem oder ein Identitätsproblem handelt. Ich bin überzeugt, dass ein Spielfilm oder Dokumentarfilm prinzipiell in allen vier Sprachregionen gezeigt und geschätzt werden kann. Der Verleih stellt die grössere Hürde dar.

So ist es beispielsweise sehr schwierig, einen Film gleichzeitig in den Kinos der deutschen und französischen Schweiz zu starten. Denn die jeweiligen Landesteile hängen kulturell stark von Deutschland und Frankreich ab.

Zudem ist es sehr teuer, einen Film zu synchronisieren. In der Regel entscheidet man sich erst für diesen Schritt, wenn der Streifen schon einen gewissen Erfolg in seiner Originalsprache aufweisen kann.

Seraina Rohrer wurde 1977 in Männedorf im Kanton Zürich geboren. Sie studierte Filmwissenschaft und Publizistik an der Universität Zürich.

Für ihre Dissertation zum Thema «Transnationale Low-Budget-Produktionen» reiste sie während mehrerer Jahre durch die USA und Mexiko.

Sie leitete zudem einige Jahre das Pressebüro des Internationalen Filmfestivals von Locarno und koordinierte die Lancierung des nationalen Pilotprojekts «Réseau Cinéma CH», eine Kooperation der Schweizer Fachhochschulen und Universitäten im Bereich Filmausbildung.

Als Nachfolgerin von Ivo Kummer ist sie seit August 2011 als Direktorin verantwortlich für Programm und Organisation der Solothurner Filmtage. In diesem Jahr stehen die Filmtage zum zweiten Mal unter ihrer Leitung.

swissinfo.ch: Gilt dies auch für Schweizer Filme im Ausland? Viele helvetische Filme erhalten an internationalen Festivals Anerkennung, sind dann aber nie in den Kinos dieser Länder zu sehen. Warum?

S.R.: Meiner Meinung nach arbeiten die Verleiher in diesem Bereich gut, aber natürlich könnte man immer noch mehr machen. Filme wie «Giulias Verschwinden» von Christoph Schaub oder «L’enfant d’en haut» von Ursula Meier beweisen, dass Schweizer Produktionen auch das Publikum im Ausland begeistern können. Beide Filme hatten grossen Erfolg in den deutschen beziehungsweise französischen Kinos. Aber man muss realistisch bleiben: Nicht alle Filme haben das Zeug, um im Ausland Erfolg zu haben.

swissinfo.ch: Fehlt den Schweizer Filmen das gewisse Etwas, um im Ausland Erfolg zu haben?

S.R.: Das glaube ich nicht. Gerade dieses Jahr haben wir einige Filme, die sich durch eine klare Linie auszeichnen konnten.  Ich denke beispielsweise an «More than Honey» von Markus Imhoof, oder «Tutti giù» von Niccolò Castelli, oder auch «L’enfant d’en haut».

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«Projektoren unterwegs»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Verein Lichtspiel hat eine riesige Menge an Projektoren, Filmen, Dokumenten und Werbematerial vor dem Ruin gerettet, die aus dem Nachlass des 1998 verstorbenen Kinounternehmers und -sammlers Walter A. Ritschard stammen. Die Sammlung war in einer alten Schokoladefabrik am Rande Berns untergebracht. Inmitten des Raums, zwischen verstaubten Projektoren, wurden einem begeisterten Publikum regelmässig Filme vorgeführt.…

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swissinfo.ch: Doch im Ausland brillieren vor allem die Dokumentarfilme. Wie erklären Sie sich, dass den Schweizer Regisseuren gerade dieses Genre mit seiner Suche nach Wahrheit so gut liegt?

S.R.: Zum einen kosten Dokumentarfilme einfach viel weniger als Spielfilme. Der Regisseur eines Dokumentarfilms kann auf sehr viel bürokratischen Aufwand verzichten, der nötig ist, um an öffentliche Finanzen zu kommen. Wer einen fiktionalen Film dreht, steht unter einem viel höheren Druck als ein Dokumentarfilmer.

Ein weiterer Punkt hängt sicher mit der Schweizer Mentalität zusammen. Die Schweizer Regisseure haben eine Vorliebe dafür, wahre Geschichten zu erzählen, ihre Umgebung zu beobachten und allfällige Missstände anzuprangern. Diese Mentalität geht einher mit Dokumentarfilmen. Gleichwohl werden die Übergänge zwischen Dokumentar- und Spielfilmen immer fliessender.

Das grosse Problem der Schweizer Regisseure besteht heute darin, dass sie nicht auf eine wirkliche Kontinuität in ihrer Karriere bauen können. Ein kleiner Markt und geringe finanzielle Mittel erlauben es einfach nicht, einen Film nach dem anderen zu drehen. Daher müssen sie häufig Jahre warten und dann den Wert ihres jeweiligen Projekts umso mehr unter Beweis stellen.

swissinfo.ch: Heisst das umgekehrt, dass die Schweiz ihre Regisseure eigentlich tatkräftiger unterstützen sollte?

S.R.: Ich bin überzeugt, dass sich mit etwas mehr finanziellen Mitteln eine Reihe von radikaleren und innovativeren Projekten fördern liesse. Projekte, die normalerweise als zu riskant erscheinen. Letztlich ist der Erfolg eines Films immer unvorhersehbar. Doch nur mit mehr Unterstützung könnten die Regisseure auch mehr wagen.

Die 48. Solothurner Filmtage finden vom 24. bis 31. Januar 2013 statt.

Im Wettbewerb «Prix de Soleure” sind sieben Filme nominiert:

  «Der Imker», von Mano Khalil, Dokumentarfilm

  «Forbidden Voices», von Barbara Miller, Dokumentarfilm

  «Rosie», von Marcel Gisler, Langspielfilm

  «Thorberg», von Dieter Fahrer, Dokumentarfilm

  «Tutto parla di te», von Alina Marazzi, Langspielfilm

  «Von heute auf morgen», von Frank Matter, Dokumentarfilm

  «Wir kamen um zu helfen», von Thomas Isler, Dokumentarfilm

Das Programm «Rencontre» der 48. Solothurner Filmtage ist dem Regisseur Silvio Soldini gewidmet. Der Mailänder mit Tessiner Wurzeln gilt seit seinem Spielfilm «Pane e tulipani» (2000) mit dem Schauspieler Bruno Ganz als Grossmeister des italienischsprachigen Kinos. Die Solothurner Filmtage gewähren einen vertieften Einblick in sein Werk.

Die «Rencontre» zeigt alle zehn Kinospielfilme Silvio Soldinis, darunter als Premiere seine Komödie «Il comandante e la cicogna». Dieser Film ist auch für den Publikumspreis nominiert.

swissinfo.ch: Dieses Jahr gibt es bei den Solothurner Filmtagen die Reihe «Radikales Kino heute». Diese Etikette hebt sich etwas vom Bild des eher braven Schweizer Kinos ab…

S.R.: Da bin ich nicht einverstanden. Es gibt sehr radikale Schweizer Filmschaffende, angefangen mit Thomas Imbach und Peter Liechti. Ihre Filme weisen über die Grenzen des klassischen Filmschaffens hinaus und suchen nach neuen Formen, um eine Geschichte zu erzählen.

Unter den internationalen Filmen zeigen wir in Solothurn dieses Jahr zwei Filme des Österreichers Ulrich Seidl, die auf ihre Art «irritierend» sind. Und wir haben auch den mexikanischen Regisseur Carlos Reygadas zu Gast, dessen Filme in kein Schema passen.

swissinfo.ch: Das Konsumverhalten ändert sich zurzeit radikal. Was wird Ihrer Meinung nach in 20 bis 30 Jahren aus dem Kino werden?

S.R.: Sicher werden alle Filme in Zukunft digital sein. Schon dieses Jahr weisen alle zeitgenössischen Filme, die in Solothurn gezeigt werden, dieses Format auf. Das ist ein technischer Aspekt.

Beim Konsumverhalten sehe ich zwei Entwicklungen: Zum einen nimmt die Zahl der Besucher an Festivals zu. Es sind Personen, die gemeinsam eine cineastische Erfahrung machen wollen. Die Diskussionen mit den Regisseuren und der Austausch mit anderen Zuschauern sowie die ganze Atmosphäre eines solchen Events locken viele Leute an. Das merken wir auch hier in Solothurn. Dabei verfolgen wir das Ziel, das Publikum dem Schweizer Film anzunähern.

Auf der anderen Seite gehen immer weniger Leute ins Kino. Filme werden zusehends über «Video on demand», über Computer oder Tablets geschaut. Das künftige Filmschaffen kann nicht einfach für die klassischen Kinoleinwände produzieren, sondern muss diese Entwicklungen im Konsumverhalten berücksichtigen.

(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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