«Meinungsfreiheit heisst nicht, alles rauszulassen»
"Religiöse Karikaturen werden leicht missverstanden", sagt Martial Leiter gegenüber swissinfo. Der Schweizer Zeichner hat im Centre Dürrenmatt in Neuenburg über das Spannungsfeld von Karikatur und Religion debattiert.
swissinfo: Beim Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt ist die Bedeutung der Religion für sein Schreiben und Malen augenfällig. Wie wichtig ist Religion für Sie?
Martial Leiter: Sie hat mich als Teil des Menschseins immer interessiert, sowohl auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene. Religion ist für mich wohl ebenso wichtig wie für Dürrenmatt. Allerdings nicht aus dem gleichen Grund, denn mein Vater war nicht Pfarrer, sondern Uhrmacher.
swissinfo: Sie sind mit politischen Zeichnungen und Karikaturen bekannt geworden. Wann haben Sie sich mit religiösen Themen beschäftigt?
M.L.: Als ich jünger war, machte ich Zeichnungen zu religiösen Themen, die man als provokant bezeichnen könnte. Später hielt ich mich damit zurück. Inzwischen werden bei uns allerdings politische Themen «religiös» behandelt.
swissinfo: Inwiefern?
M.L.: Es gibt da eine zweischneidige Mischung zwischen Religion und Politik. In unserer Gesellschaft, wo man Kirche und Staat trennt, ist die Politik in ihrem Funktionieren ein wenig religiös geworden. Oft werden sachliche Streitfragen mit einer fast religiösen Aura aufgeladen. Politiker inszenieren sich wie Heilsbringer. In der politischen Arena wird heute eine Wirkung erzielt wie früher in der Kirche.
swissinfo: Warum sind Karikaturen zu religiösen Themen besonders heikel?
M.L.: Die subjektive Interpretation ist hier stark, man kann sich dadurch auch leichter angegriffen fühlen als bei politischen Themen.
Ich habe religiöse Symbole meistens nicht für religiöse Themen benutzt, sondern um eine Parallele darzustellen, eine Allegorie oder Analyse zu machen. Das wurde oft missverstanden von Leuten, die das Symbol wörtlich lasen und sich verletzt fühlten.
swissinfo: Zum Beispiel?
M.L.: Vor Jahren erschien in der französischen Zeitung «Le Monde» eine Zeichnung von mir, die gegen die Omnipräsenz von Ethikern und moralischen Instanzen gerichtet war, die dauernd sagen, was gut und was schlecht ist. Dieser moralische Zeigefinger stört mich.
Auf der Zeichnung sieht man drei Gelehrte am Fuss eines Kreuzes, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. Man sieht nur den unteren Teil mit den angenagelten Füssen. Die Textzeile lautet: «Ethik-Kommission prüft, ob die Nägel gut desinfisziert wurden.»
Das hat nichts mit Religionskritik zu tun. Ich habe ein in unserer christlichen Kultur universelles Bild von einer universellen Hinrichtung genommen und aufgezeigt, dass vor lauter Konzentration auf so etwas Nebensächliches wie desinfiszierte Nägel übersehen wird, dass ein Mensch hingerichtet wird. Aber einige Leuten haben mir vorgeworfen, mich über die Religion lustig zu machen.
swissinfo: Vor gut zwei Jahren lösten in einer dänischen Zeitung veröffentlichte Mohammed-Karikaturen heftige Reaktionen aus. Die eine Seite schrie «Blasphemie», die andere «Meinungsfreiheit». Was löste das bei Ihnen aus?
M.L.: Erstens fand ich die Zeichnungen schlecht. Sie verdienten diese Aufmerksamkeit nicht. Sie zeugten von Unkenntnis oder Verkennung der islamischen Welt.
Ich setze mich dafür ein, dass wir unsere heiligen Kühe, die allerdings eher im Wirtschaftsleben zu finden sind, frei kritisieren können. Auch hier käme es zu geharnischten Reaktionen, wenn auch nicht zu einer Fatwa wie in der muslimischen Welt.
swissinfo: Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit?
M.L.: Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Nur Idioten sind dagegen. Aber ist das bereits Meinungsfreiheit, wenn man so etwas publiziert? Meinungsfreiheit heisst nicht, alles rauszulassen, wozu man gerade Lust hat, und sei es noch so dumm und beleidigend für gewisse Menschen.
Wenn diese Menschen dann protestieren, wirft man ihnen vor, gegen die Meinungsfreiheit zu sein, das ist heuchlerisch. Auch die Medien haben Öl ins Feuer gegossen.
Dabei geht es darum, die Meinungsfreiheit bei uns zu praktizieren, und zwar in Bereichen, die in der Schweiz bedeutend heikler sind als die Religion. Wenn hier Interessen der Wirtschaft im Spiel sind, ist Kritik tabu, dann heisst es, das schade dem Image eines Unternehmens.
Wir sollten vor unserer eigenen Türe wischen. Oder um es biblisch auszudrücken: ‹Warum schaust du auf den Strohhalm im Auge deines Bruders, beachtest aber nicht den Balken in deinem eigenen Auge›?
swissinfo: Sind von Ihnen auch schon Karikaturen abgelehnt worden?
M.L.: Mehrmals. In den 70er-, 80er-Jahren waren die Tabuthemen andere als heute. Damals durfte man nicht an die Armee rühren, heute ist sie in der öffentlichen Wahrnehmung fast so bedeutungslos geworden wie die Religion.
Damals wurde man sofort beschuldigt, ein Landesverräter zu sein. Bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 wurde man hier verdächtigt, von Moskau bezahlt zu sein, wenn man die Schweizer Armee kritisierte.
swissinfo: Sie beschäftigen sich seit langem mit dem Berg Eiger. Woher kommt dieses Interesse?
M.L.: Mit diesem Berg verbindet mich seit meiner Kindheit eine tiefe Beziehung. Ich besuche ihn immer wieder und gehe ganz nahe ran. Ich habe ihn unzählige Male gezeichnet. Er ist plastisch und grafisch eine Herausforderung. Die Geschichte um diesen Berg fasziniert mich, seine Dramatik.
Gerade in meiner politisch aktiveren Zeit, wo sich so vieles veränderte, brauchte ich den Berg als Gegen-Ort, der immer da war, beständig. Der Berg hat etwas fast Göttliches für mich. Ein Bild der Präsenz, der Grösse und des Erhabenen, auch wenn dieses Wort etwas aus der Mode gekommen ist.
Für einen Zeichner ist das ein unerschöpfliches Thema. Darin ist alles enthalten: das Wasser, der Schnee, der Nebel. Es ist ein gigantisches Theater, wunderschön.
swissinfo-Interview: Susanne Schanda
Der Schweizer Künstler und Karikaturist Martial Leiter war Gast am Kolloquium «Karikatur und Religion» im Centre Dürrenmatt in Neuenburg.
Experten aus der Schweiz und dem Ausland debattierten am 20. und 21. Juni über Meinungsfreiheit und die Grenzen zur Gotteslästerung bei Karikaturen.
Im Oktober 2009 stellt das Centre Dürrenmatt unter dem Titel «Guerres» Werke von Martial Leiter aus.
Martial Leiter wird 1952 in Fleurier im Kanton Neuenburg geboren. Heute lebt er in Lausanne.
Nach einer Lehre als technischer Zeichner beginnt er frei mit Gravierungen und Lithografien zu experimentieren. Zudem arbeitet er mit Tusche und Bleistift.
Bekannt wird Leiter als Karikaturist für grosse schweizerische, deutsche und französische Zeitungen wie «Tagesanzeiger», «Wochenzeitung/WoZ», «Die Zeit», «Frankfurter Allgemeine», «Le Monde».
Im Limmat-Verlag sind mehrere Bücher mit Leiters Zeichnungen erschienen.
Seit rund 5 Jahren arbeitet er vorwiegend künstlerisch als Zeichner, Maler und Bühnenbildner.
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