Melinda Nadj Abonji gewinnt Schweizer Buchpreis
Nach dem Deutschen Buchpreis hat die Zürcher Autorin Melinda Nadj Abonji für ihren Roman "Tauben fliegen auf" auch den Schweizer Buchpreis 2010 erhalten. Der Preis ist ihr am Sonntagmittag im Rahmen der BuchBasel verliehen worden.
Die Jury würdigte das Buch als «herausragendes literarisches Werk der diesjährigen Buchproduktion».
Mit 39 Prozent der Stimmen gewann die gebürtige Ungarin auch das erstmals durchgeführte Publikums-Voting.
Der zum dritten Mal verliehene Schweizer Buchpreis ist mit 50’000 Franken dotiert.
Die Jury stand nach eigenen Angaben «vor der grossen Herausforderung, den Schweizer Buchpreis an eines von fünf hervorragenden Werken zu vergeben, die für den Preis nominiert waren».
Zu den Finalisten gehörten neben Nadj Abonji auch Dorothee Elmiger mit «Einladung an die Waghalsigen», Urs Faes mit «Paarbildung», Pedro Lenz mit «Der Goalie bin ig» und Kurt Marti mit «Notizen und Details 1964 – 2007».
Nicht leiten lassen
Die Juroren hätten sich bei ihrer Entscheidung nicht davon beeinflussen lassen, dass «Tauben fliegen auf» Anfang Oktober bereits den Deutschen Buchpreis erhalten hat, sagte Jury-Sprecherin Sandra Leis gegenüber der Nachrichtenagentur SDA. Man habe, wie in den Statuten vorgeschrieben, rein nach literarischen Kriterien geurteilt.
swissinfo.ch hat in der Woche vor der Entscheidung ein Interview mit Nadj Abonji geführt, wobei ihre Einwanderung in die Schweiz, die Grundlage des preisgekrönten Romans, ein zentrales Thema war.
swissinfo.ch: Letztes Jahr hat Ilma Rakusa, die in der Slowakei geboren ist, mit «Mehr Meer» den Schweizer Buchpreis gewonnen. Es ist verschiedentlich von einer neuen Generation von Secondo-Schriftstellern die Rede. Wie sehen Sie das?
Melinda Nadj Abonji: Es freut mich natürlich, wenn sich ausländische Leute der ersten, zweiten oder dritten Generation durch das Buch irgendwie bestärkt fühlen. Doch mit dem Etikett Migranten- oder Secondo-Literatur kann ich überhaupt nichts anfangen, es dient Journalisten lediglich zur Vereinfachung.
Ich habe in «Tauben fliegen auf» über Jugoslawien und das Wegziehen in die Schweiz geschrieben, aber es ist deshalb nicht mein einziges Lebensthema.
Natürlich spielt das Herkunftsland eine Rolle, doch für mich ist die Schicht entscheidender. So hat mich etwa die kroatische Lyrikerin Dragica Rajcic, die wie ich aus dem Arbeitermilieu stammt, sehr beeinflusst.
Da muss man anders kämpfen, wenn man Schriftstellerin werden will, auch innerhalb der Familie. Man hat auch keine Beziehungen, keinen Onkel, der in der Literaturkommission sitzt. Ich habe aber auch keinen Druck und muss mich nicht mit dem erfolgreichen Grossvater vergleichen.
Auch die Hauptfiguren im Buch sind aus der unteren Schicht. Intelligente Menschen wie etwa die Grossmutter, die nicht im landläufigen Sinn gebildet sind. Mich fasziniert diese Intelligenz, die mit Schulwissen nichts zu tun hat.
swissinfo.ch: Sie kamen mit 5 Jahren als Tochter ungarischer Serben aus der Provinz Vojvodina zu Pflegeltern in die Schweiz. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Zeit des Schweigens. Im Unterschied zu den Eltern von Ildiko, der Protagonistin im Buch, die jedes Mal schwitzen, wenn sie Deutsch reden, konnten Sie die Sprachbarriere erfolgreich überwinden.
M.N.A.: Die Generation meiner Eltern hatte effektiv damit zu kämpfen, dass sie sofort in die Arbeitswelt kamen und durch ihre Sprachlosigkeit auch ausgenutzt wurden. Meine Eltern, die in der Wäscherei, im Service, in der Metzgerei arbeiteten, hatten einen sehr eng gesteckten Stundenplan.
Sie haben sich nicht um einen Deutschkurs gedrückt, sie haben einfach nie einen gemacht, weil es zeitlich gar nicht möglich war.
Ich selbst hatte als Kind einen anderen Kampf. Bei mir ging es nicht ums Berufsleben, sondern ausschliesslich ums Seelenleben. Nach meiner Ankunft in der Schweiz machte ich die drastische Erfahrung, dass ich mich während eines Jahres nicht verständigen konnte.
Diese Sprachlosigkeit, dieses Gefühl nicht verstanden zu werden, war ein katastrophales Erlebnis. Doch ich habe dadurch auch erfahren, was es bedeutet, sich verständigen zu können.
Dass ich heute mit der Sprache arbeite, dass das mein Beruf ist, ist denn auch mehr als nur ein Mädchentraum. Sprache ist mein Lebensinhalt und das wird auch immer so bleiben.
Inwiefern die ungarische Muttersprache mein Schreiben prägt, kann ich nicht genau sagen. Doch ich glaube, wenn man mit zwei so grundsätzlich unterschiedlichen Sprachen aufwächst, dann passiert da irgendetwas. Ich habe das Ungarische über Lieder gelernt, was sich sicher auch auf Rhythmus und Tonalität der Sätze auswirkt.
swissinfo.ch: Die Familie in Ihrem autobiographisch gefärbten Buch versucht sich dermassen anzupassen, dass sie die eigene Identität völlig aufzugeben droht. «Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten», sagt etwa die Mutter. Wie sähe ihrer Ansicht nach eine sinnvolle Integrationspolitik aus?
M.N.A.: Das ist eine grosse Frage. Es heisst immer wieder, man muss sich anpassen. Doch an was oder wen? Gibt es einen Durchschnittsschweizer? In Deutschland verwendet man ja diesbezüglich den Begriff Leitbild, das wirkt für mich sehr unbeholfen.
Es ist tragisch, doch es geht heute häufig um Polarisierung und nicht um Kommunikation. Ich bin ja einverstanden, dass man in einer Gesellschaft einen gewissen Grundcode teilen muss, sonst funktioniert es nicht.
Doch dass man solche Leitbilder formuliert, aber nur wenig dafür macht, diese verständlich zu machen und den Austausch zu fördern, finde ich ein bisschen mager. Man könnte von den anderen Menschen ja auch etwas mehr mitnehmen ausser den kulinarischen Spezialitäten.
Ich denke, es besteht ein generelles Desinteresse gegenüber dem Fremden, wobei die Angst einfach noch ein schlechter Begleiter ist.
swissinfo.ch: Die Protagonistin lebt in Welten voller Kontraste. Im Buch wird etwa eindrücklich beschrieben, wie im «Mondial» Kaffee serviert und Kartoffeln gerüstet werden, während Verwandte und Bekannte wegen dem Krieg in Jugoslawien in Gefahr sind.
M.N.A.: Es gibt ein Vakuum, die Arbeit erscheint plötzlich sinnlos angesichts dessen, dass es bei Verwandten und Bekannten in der Heimat um Leben und Tod geht.
Dies ist insofern gefährlich, weil man in dieser Situation bereit ist, sehr vieles zu schlucken. Weil man denkt, andere müssen so stark leiden. Dann ist das eigene Leiden gar kein Thema mehr.
In Anbetracht von Leben und Tod verblasst alles andere. Und trotzdem, wenn man nichts macht, dann ist man vielleicht plötzlich auch tot aus Erschöpfung oder hat keine Identität mehr.
swissinfo.ch: Im Buch geht es auch um die Entfremdung der Heimat und die Kluft zwischen sozialem Aufstieg und innerer Befindlichkeit. Sie beschreiben etwa, wie die Familie mit dem Mercedes in der Vojvodina durch die kleinen Strassen voller Staub einfährt und alle Blicke auf sich zieht. Und wie sich Ildiko einfach nur schäbig fühlt.
M.N.A.: Es geht dabei auch um einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Für die Eltern ist das teure Auto eine Art Genugtuung, denn wer über materielle Sicherheit verfügt, hat es geschafft.
Die Kinder sehen dies indes aus einer anderen Perspektive. Sie stellen sich vielmehr die Frage, habe ich etwas dafür gemacht, dass es so ist, wie es ist. Dadurch, dass es von den anderen bewundert wird, fühlt das Kind mehr das Aussenseitertum, als dass es denken würde «Wir haben es geschafft, wir sind jetzt die Reichen».
Das ist eine grundlegende Wahrheit. Diese Art von sozialem Aufstieg ist rein äusserlich, es geht nicht um ein inneres Gefühl. Für die Eltern ist die materielle Anhäufung die einzige Möglichkeit vorwärts zu kommen.
Die Schriftstellerin wurde 1968 in der Provinz Vojvodina als Tochter ungarischer Serben geboren.
1973 zog sie in die Schweiz. Sie studierte Deutsch und Geschichte.
Nebenbei hat sie während rund 20 Jahren in den von ihren Eltern geführten Cafés gearbeitet.
Nadj Abonji ist Autorin, Musikerin und Textperformerin.
2004 erschien ihr Romandebüt «Im Schaufenster im Frühling».
Für den Roman «Tauben fliegen auf» wurde sie mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.
Melinda Nadj Abonji erzählt in ihrem autobiographisch gefärbten Roman «Tauben fliegen auf» die Geschichte der Familie Koscsis, die in die Schweiz auswandert.
Die Koscsis stammen aus der serbischen Provinz Vojvodina und gehören der ungarischen Minderheit an.
Sie seien mit einem Koffer und einem Wort in die Schweiz gekommen, dem Wort Arbeit, sagt der Vater.
Die Koscsis führen zuerst eine Wäscherei, bevor sie an der Goldküste das Café «Mondial» pachten können, wo die bürgerliche Kundschaft ihren Kaffee trinkt.
Im Roman geht es um das Leben in verschiedenen Welten, um die Entfremdung von Eltern und Heimat, Diskriminierung und die Kluft zwischen sozialem Aufstieg und innerer Befindlichkeit.
Der Schweizer Buchpreis 2010 war erst die dritte Ausgabe der Veranstaltung: Erster Preisträger war Rolf Lappert, 2009 gewann Ilma Rakusa den Preis.
Nach den beiden Preisverleihungen hatte der Verkauf der prämierten Bücher jeweils kräftig angezogen: Lapperts «Nach Hause schwimmen» schaffte es aus dem Nichts an die Spitze der Schweizer Bestsellerliste, Rakusas literarisch etwas anspruchsvolleres Werk «Mehr Meer» immerhin auf Rang 7.
Seither war dem Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband (SBVV) immer wieder vorgeworfen worden, er habe den Schweizer Buchpreis nur aus kommerziellen Gründen geschaffen.
«Tauben fliegen auf» hat aber so einen Anschub nicht nötig, ist das Buch doch seit vier Wochen das meistverkaufte in der Schweiz.
(Interview: Corinne Buchser)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch