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Milo Rau inszeniert in Wien eine Revolution – ausgebuht wird er für seine Oper

Milo Rau im Gespräch
Der selbsternannte "linksliberale Softie" Milo Rau im Gespräch. Franzi Kreis

Der Schweizer Theatermacher Milo Rau ist bekannt für radikales politisches Theater in Form und Inhalt. Als neuer Intendant der Wiener Festwochen macht er allen den Prozess: der österreichischen Regierung, der rechtspopulistischen FPÖ und sich selbst.

“Wien muss brennen!” Das kündigte der 47-jährige Schweizer Milo Rau als neuer Intendant der Wiener Festwochen an, als er eine “Freie Republik” ausrief.

Ein hundertköpfiger “Rat der Republik“ unterstützt ihn mit wöchentlichen “Hearings” bei einer Revolution. Die erste Zeile der Hymne seiner neuen Republik lautet “Geh nach Hause, Kapitalisti!” Der Hauptsponsor der Wiener Festwochen, eine Bank, hat sich bis jetzt nicht beschwert.

Die Wiener Festwochen sind ein fünfwöchiges Festival mit Theater, Oper- und Tanzaufführungen. Mit dem neuen Intendanten kommen auch “Schauprozesse” nach Wien: Denn die von Rau gegründete “Freie Republik” hält über Österreich Gericht – im Rahmen von einem Gerichtshof mit Zeug:innen, Anwält:innen und echten Richter:innen.

Das ist natürlich alles nur Theater. Trotzdem waren die Festwochen noch nie so politisch.

Eröffnung: Ausrufung der Freien Republik Wien
Bei der Eröffnung kam es gleich zur Ausrufung der Freien Republik Wien. Franzi Kreis

“Das Krasse ist, dass das hier ein Mammutprojekt ist. Die Prozesse sind so gross wie alle zuvor zusammen”, sagt Rau gegenüber SWI swissinfo.ch. “Wenn ich jetzt betrachte, wie wir es geschafft haben, die Stadt zu verwickeln, dann ist uns viel mehr gelungen, als wir dachten.“

Rau meint auch den Erfolg beim Publikum: Bereits zehn Tage vor dem Ende der Wiener Festwochen 2024 wurden mehr Tickets verkauft als im Vorjahr – und dieses war bereits ein Rekordjahr gewesen, wie Rau vom Erfolg begeistert betont.

Auch die Medienaufmerksamkeit ist Rau sicher: Bis hin zur New York Times wurde über die Festwochen berichtet. Die Justiz-Spektakel begleiten Raus Karriere als Theatermacher schon lange.

Milo Raus “Freie Republik” in Österreichs Hauptstadt sollte sich ausgerechnet an der Schweiz orientieren. Die direkte Bürger:innenbeteiligung durch Volksabstimmungen ist für ihn ein wertvolles demokratisches Werkzeug in der Gesellschaft: “Ich glaube, die Schweiz ist das Modell für eine funktionierende Demokratie.”

Diese Demokratie habe schon funktioniert, bevor sie zu so einem reichen Land geworden ist. Entscheidend für das Schweizer Demokratiemodell ist, folgt man Rau, das Konzept einer Willensnation, welches der Schweiz zugrunde liegt: “Wir haben gesagt, dass wir vier verschiedene Sprachen sprechen und es keinen anderen Grund gibt, dass wir als Land bestehen, als dass wir auf dem gleichen Terrain leben und das reicht uns.”

Die Volksabstimmungen dienen der Entscheidungsfindung, aber ihre Bedeutung für die Gesellschaft geht für Rau darüber hinaus. “Jede andere Gesellschaft, die ich kennengelernt habe, lebt in permanenter Spaltung, denn sie hat nie ein Ritual gefunden, die Spaltung zu überwinden”, sagt der Theatermacher.

Die Theater-Prozesse von Milo Rau

2013 startete er mit den ”Zürcher Prozessen”, wo das Schweizer Wochenmagazin Weltwoche wegen Diskriminierung von Minderheiten angeklagt wurde, und den “Moskauer Prozessen”, in denen das theatrale Gericht über die Punk-Aktivistinnen Pussy Riot befand. Die Anhörungen des “Kongo Tribunals” im Jahr 2015 befassten sich mit den Ursachen des Bürgerkriegs in Ostkongo.

Dieses Jahr steht nun die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und Österreichs Regierung vor Gericht.

Am ersten Wochenende von Raus Wiener Theatergericht sass Österreichs Regierung auf der Anklagebank. Hat sie während der Coronazeit Grundrechte verletzt?

Unter dem Vorsitz von Irmgard Griss, die früher tatsächlich Präsidentin des Obersten Gerichtshofs war, wurde verhandelt. Die sieben Geschworenen der “Volksjury” sprachen die Regierung im Punkt der Grundrechtsverletzung frei, aber verurteilte sie, weil sie während der Pandemie zu wenig getan habe, um vulnerable Menschen zu schützen.

Am zweiten Wochenende stand die rechtspopulistische FPÖ vor Gericht – ausgerechnet an dem Tag, als diese bei den Europaparlamentswahlen an allen anderen österreichischen Parteien vorbeigezogen ist.

Als Verteidigerin trat Frauke Petry auf, die in Deutschland früher Vorsitzende der rechtspopulistischen AfD war.

Wiener Prozess
Wiener Prozess: Die FPÖ, die AfD und Milo Rau – alle stehen sie vor Gericht. Ines Bacher

Petry bezeichnete den Prozess als Bühne für linke Ideologen der “Sowjetrepublik Wien”. Rau wiederum beschrieb die FPÖ als “Partei, die in den Fünfzigerjahren von ehemaligen SS-Männern und enttäuschten Nationalsozialisten gegründet wurde”.

Eine Zeugin nannte Milo Rau dafür einen “kommunistischen Intendanten”, und er erwiderte, dass er bloss ein “linksliberaler Softie” sei.

Ziemlich mild war auch das Urteil: Fünf von sieben Geschworenen sprachen die FPÖ frei. Es sei legitim, dass in einem demokratischen Rechtsstaat eine Partei auch antidemokratische Ziele verfolge.

Wiens Kulturstadträtin als Mittäterin von Milo Rau

Am dritten Wochenende ging es um drei Fälle: Klimaaktivist:innen, die sich an einer Autobahn festgeklebt haben, mussten sich wegen Vorwürfen von Sachbeschädigung und Terrorismus verantworten.

Am meisten für Aufruhr sorgte der Prozess darüber, ob die Räumung eines pro-palästinensischen Protests durch die Polizei legitim war.

Stadträtin für Kultur und Wissenschaft Veronica Kaup-Hasler
Stadträtin für Kultur und Wissenschaft Veronica Kaup-Hasler. Keystone-APA/Max Slovencik

Mehrmals musste die Sitzung unterbrochen werden, weil Teilnehmer:innen ungeplant das Wort ergriffen. Eine israelkritische Gruppe kritisierte die “heuchlerischen und politisch völlig entleerten Wiener Prozesse”, bis ihnen das Mikrofon abgedreht wurde.

Es kam auch hier zu Freisprüchen und einer “Urteilsenthaltung” aus Mangel an Beweisen.

Zuletzt stand Milo Rau selbst wegen Förderungsmissbrauch der Wiener Festwochen vor Gericht. Der Vorwurf lautete, dass die 13,6 Millionen Euro zur Ideologisierung und Politisierung im eigenen Sinne und damit falsch verwendet wurden.

Bei den simulierten Prozessen seien keine Künstler:innen auf der Bühne des “Dokutheaterstücks”, und es handle sich um politische Wissensvermittlung und politisches Engagement.

Die sozialdemokratische Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler war als Zeugin geladen und bezeichnete sich als “Mittäterin”. Sie erklärte, es sei eine vergnügliche Vorstellung mit Milo Rau in eine Zelle gesperrt zu werden.

Soweit kam es dann doch nicht, denn die von Rau selbst eingesetzte Jury sprach ihn frei.

Buhrufe bei der Clemenza di Tito

Kritischer reagierte das Publikum auf Raus Version einer Mozart-Oper. Die Inszenierung von Mozarts Clemenza di Tito polarisierte stark und löste im Publikum auch zahlreiche Buhrufe aus.

Rau lässt darin eine unangenehme Influencerin als Intrigantin agieren, die eine Revolution gegen den milden Kaiser Tito anzetteln will. “Kunst ist Macht” stand auf einem Schriftzug auf der Bühne.

Szene von "La Clemenza di Tito"
Eine projizierte Revolution? Szene von “La Clemenza di Tito”. Nurith Wagner Strauss

Denn das Stück soll auch als Kritik an der Kulturlobby verstanden werden.  Doch das traditionell ausgerichtete Opernpublikum kam nicht für eine Revolution. Viele schimpften über die Inszenierung.

Auch wenn sie nicht als Zeugin auf der Bühne steht, ist die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler begeistert – insbesondere wegen der internationalen Resonanz, wie sie gegenüber SWI swissinfo.ch sagt: “Milo Rau hat die Fenster zur Welt weit geöffnet – dafür spricht auch die umfassende mediale Berichterstattung im deutschsprachigen Raum und bis hin zur New York Times. Ich empfinde es als grosses Glück, ihn in der Stadt zu haben.”

Protest gegen Omri Boehm

Doch die SPÖ, die Partei von Kaup-Hasler, hat bereits angekündigt, die Festwochen kritisch “nachzubesprechen”.

Die Wiener Festwochen waren nämlich nicht nur von unerwünschten propalästinensischen Zwischenrufen begleitet, sondern auch von Antisemitismus-Vorwürfen.

Für die “Rede an Europa” wurde der israelische Philosoph Omri Boehm eingeladen, der für einen binationalen Staat auf dem Gebiet von Israel-Palästina eintritt, wo es darum gehen soll, “eine Kunst des VergessensExterner Link zu entwickeln, eine Politik, die daran erinnert, den Holocaust und die Nakba zu vergessen, um sie nicht länger als Säulen unserer Politik zu verewigen, sondern abzutragen”.

Gegen Boehms Einladung gab es heftigen Protest. Vertreter der Israelischen Kultusgemeinde nannten Boehms Auftritt die “falsche Rede am falschen OrtExterner Link”.

Der Philosoph Omri Boehm während seiner "Rede an Europa" im Rahmen der Wiener Festwochen am Dienstag, 7. Mai 2024, am Judenplatz in Wien
Der Philosoph Omri Boehm während seiner “Rede an Europa” im Rahmen der Wiener Festwochen am Dienstag, 7. Mai 2024, am Judenplatz in Wien. Keystone-APA/Roland Schlager

Andererseits hat ein propalästinensischer Aktivist während der Rede eines polnisch-jüdischen Regisseurs an der Eröffnung der Festwochen ein Transparent in den Farben Palästinas hochgehalten.

Darauf reagierte die Festivalleitung auf der Bühne mit der Aussage, dass man damit auch “die Flagge eines Terrorregimes schwenke”.

Gegen die Antisemitismus-Vorwürfe verwehrt sich Milo Rau: “Es hat wirklich absolut nichts mit dem zu tun, was wir machen. Ich halte offiziell fest, dass der Begriff des Antisemitismus dadurch entwertet wird.”

Manche Kritiker:innen sind aber auch der Meinung, dass Rau als Ich-AG jedes Mittel recht ist, um Aufmerksamkeit zu generieren. So sei es kein Zufall, dass die Festwochen selbst in den Farben der palästinensischen Flagge beworben werden.

Ist das Zufall oder kalkulierte Provokation? Klar ist, dass Rau auch von pro-palästinensischen Gruppierungen Gegenwind spürt.

Milo Rau hat einen Vertrag für fünf Jahre und daher noch viel Zeit sein Projekt weiterzuentwickeln. Nächstes Jahr will er “noch eins draufsetzen”, wie er sagt. Langweilig werden die nächsten Festwochen unter Intendant Milo Rau bestimmt nicht.

Editiert von Benjamin von Wyl

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